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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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12. Heft
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Kauder, Gustav: Hosenrollen
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Trinius, August: Vom alten "Wartburg-Restaurant"
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0357

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MODERNE KUNST.

Die Operette ist der Hosenrolle immer treu geblieben, allerdings
hat sie auch deren niedrigste, geschmackloseste Anwendung her-
vorgebracht. Aesthetisch akzeptable Hosenrollen wie der Prinz
Orlofsky in der „Fledermaus“ oder der Seekadett Henry in
Heubergers „Opernball“ werden fast nicht mehr geschrieben.

Dagegen kleidet man gern die Hälfte des weiblichen En-
sembles in pralle Ur.iformen, Matrosentrikots oder wie
sonst es das Milieu des Librettos gerade bietet und läßt
sie öfter als möglich in Grotesktänzen und überraschenden
Kehrtwendungen über die Bühne defilieren, zu keinem
andern Zweck, als um die blühende Fleischlichkeit des
engagierten Damenflors dem Feinschmeckerparkett aufs
vorteilhafteste zu präsentieren. Noch outrierter als bei
uns ist dieser ordinäre Mißbrauch der „breeches parts“
in der englischen und amerikanischen Operette. Aber
allmählich sieht man auch in der Operette ein, daß diese
Unsinnigkeit von unserm verfeinerten Geschmack als un-
modern ausgelächelt, wenn nicht gar (ohne Prüderie) als
abstoßend empfunden wird, und man fängt bereits an,
diesen Unfug des Trikots einzuschränken.

Die moderne Entwicklung des Bülmenwerks hat also
die Hosenrolle immer mehr ausgeschaltet. Schon eine Kraft-
natur wie die Vestvali (Stegemann), die nach ihrer Wandlung

von der Sänge
rin zur Tragöc
ihre kolossale phy
sische Potenz gern in
Männerrollen austobte,
war genötigt, den Ro-
meo und Hamlet darzu-
stellen. Sie hat damit natürlich
nicht durchgegrift'en. Nachfolgerin
wurde ihr bekanntlich Sarah Bern-
hardt, aber diese nur aus über-
großem schauspielerischem Ehr-
geiz, der sie verleitete, sich Aufga-
ben jenseits ihrer geschlechtlichen
Grenzen zu suchen. Solche Dar-
stellungen waren nicht Hosen-
ro.llen im eigentlichen Sinne. Sic
waren ein unnatürliches Rivalisie-
ren mit männlichen Schauspielern,
und deshalb hat die Bernhardt
einen durchgreifenden Erfolg nur
im Rostandschen L’Aiglon erzielt,
der einzigen von einem modernen
Dichter der letzen 15 Jahre als
solchen gedachten Ilosenrolle.
(Von Akzidenzen in der blühenden
Schwankfabrikation kann man ab-
sehen.) Vielleicht ist der Mangel
an modernen künstlerischen
Ilosenrollen schuld da-
ran, daß es zurzeit
keine Plosendar-

stellerin von Ruf gibt. (Die als Hosenspielerinnen heute ge-
rühmten Soubretten verdanken ihren Ruf nur den schönen
Proportionen und der Wohlbildung ihrer Beine.) Zweifellos
sind aber solche Spezialbegabungen latent vorhanden. Es

\ om alfcn „\\ arl-

9

9w?on der Romantik will unser deutsches Volk schon
'(fj, längst nicht mehr allein leben. Dichter und auch
sonst höchst wunderliche, unmoderne Leute haben sich
auch längst bescheiden müssen. Fern, fern liegen die
Tage, wo man im Schatten von Ruinen, umrauscht vom
leisen Flügelschlage von Geschichte und Sagenpoesie,
träumte und schwärmte, wo Lieder erstanden und erklan-
gen, Gitarren schwirrten und heilige Freundschaften fürs
Leben geschlossen wurden. Wir sind genußfroher, an-
spruchsvoller, materieller geworden. Die Poesie in Ehren,
doch Lippen und Gaumen dürfen nicht mehr zu kurz kom
men. So erstanden allüberall in una neben poesieumwehten
deutschen Stätten gastliche Unterkunftsräume. Dic Kiause des
„alten Samiel“ auf der Rudelsburg wandelte sich in eine stark be-
suchte Wirtschaft, seit Jahresfrist hat man sogar die Poesie auf dem

Mme. Sarah Bernhardt
als „Hamlet".

Ery S. Urban von der Komischen Oper
m Hoffmanns Erzählungen.

Phot. Ernst Schneider, Berlin.

gab vor nicht langer Zeit in Wien eine Auffiihrung des Nestroyschen
„Lumpazivagabundus“, in der Hansi Niese aus Laune den Knieriem
spielte und die mit ihr auf der Bühne befindlichen Humoristen
als Komiker glatt abtrumpfte. Und ich erinnere mich einer
Aufführung des „Opernball“, worin als Seekadett eine — se-
riöse Opernsängerin Nigrini durch ein durchaus stilvolles
und absolut originelles Erfassen und Gestalten des bisexu-
ellen Raffinements der Hosenrolle überraschte. Im all-
gemeinen sucht man aber heute selbst für Knabenrollen
des ernsten Dramas männliche Schauspieleleven heran-
zubilden, wodurch für die Iilusion der Wahrhaftigkeit
tatsächlich viel gewonnen wird. (Nur der große deko-
rative Bühnenmeister Max Reinhardt hat eine Vorliebe
für Hosenrollenbesetzungen, die er ailerdings unserm
reineren Geschmack durch die Entkleidung sympathischer
macht.) Am ehesten findet man heute Hosenrollen im
— Kientopp, der über günstigere technische Hilfen für
solche Verstellungen verfügt, und in der dekorativen
Tanzpantomime.

Ich sagte, daß moderne seriöse Autoren die Hosenrolle
vermeiden. Es gibt eine Ausnahme: Frank Wedekind. —
Dieser genialste Gestalter des allmächtigen Eros, dieser auf-
richtigste Bekenner einer allanwesenden Sexualität schreibt
mit Bewußtsein
:rverse Verklei-
:n, und in seiner
grandiosen Wahrhaf-
tigkeit, die keine (fal-
sche und kleinliche)

Scham kennt, läßt er
überall durchschimmern, was im
Menschentier an verbotener „Un-
sittlichkeit“ um sein lebendiges
Recht schreit und wimmert. Bei
ihm gibt es nicht mehr die im-
merhin versöhnliche Liebenswür-
digkeit des Gamintypus, sein
furchtbarer Witz brennt den
Ilosenrollen eine erschreckend
drastische Fabrikmarke als Motto
ein: „Verflucht und zugenäht.“

Der Gipfel einer ideellen Sexual-
union ist sein neues Mysterium
„Franziska“, dessen Titelheldin
im zweiten Akt als — ver-
heirateter Franz auftritt, der
seine Frau mit einer Freundin
betrügt und dabei selbst Mutter-
freuden entgegensieht! Derart
sind seine Hosenrollen wesent-
liche und inhaltlich (durch se-
xuelle Anomalität) begrtin-
dete Teile der drama-
tischen Gestaltung,
er ist der erste,

der psychologische (oder besser psychopathische) und daher
künstlerisch berechtigte Hosenrollen schreibt.

Die kongeniale Darstellerin aber, die er brauchte, hat Frank
Wedekind bis heute noch nicht gefunden.

Hansi Niese in Förster Christel.
Phot. Ilans Markart, Wien.

ßurg-Kcstaurant

[Nachdruck verboten.J

Kickelhahn, Goethes „erhabenem Berge“, für immer durch
die Eröffnung eines „Hotels“ totgeschlagen. Auch die
Wartburg, Thüringens stolz leuchtendes Palladium, sah
im Zeitlaufe der Jahrzehnte die einst bescheidene Burg-
wirtschaft immer stattlicher sich ausbauen. Denn jähr-
lich wuchs der Strom fremder und einheimischer Be-
sucher, der allmählich wohl die Zahl 100 000 erreichte.
Und nun ist der bekannte Bau gefallen, eingerissen. Ein
Stiick tiefer ward für die Zwischenzeit eine Unterkunfts-
stätte errichtet, bis in zwei Jahren droben der stattliche Neu-
bau seine Pforten öffnen darf. Hoffen wir, daß dieser Nach-
bar der allerdeutschesten Burg fortan auch einen kerndeutschen
Namen empfange. Daß hier die weimarische Hofverwaltung oder
der Hüter der Burg, Oberschloßhauptmann von Cranach, ein ent-
scheidendes Wort fälle. Die deutsche Sprache ist zu heilig, um von

Annemarie Steinsick als
König Karl in den Karolingern.
Phot. Albert Meyer, Berlin W.
 
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