Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/1913
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0769
DOI Heft:
25. Heft
DOI Artikel:Halke, Paul: Ein Sonntag im Zoo: Plauderei
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MODERNE KUNST.
325
Paul Halke: Ein Sonntag im Zoo: Der Stunn auf die Kellner.
eincm Ponny, einem Esel und einem Ziegenfuhrwerk bestelit und den Kleinen Gelegen-
heit gibt, auf dem Rücken eines lebenden Tieres den Vorgeschmack kavalleristischer
Preuden zu genießen. Stolz sitzen die kleinen Reiter und Reiterinnen in ihren Sätteln,
und bewundernd ruhen die Augen ihrer Spielkameraden auf dem besonders kühnen
Gefährten, der ohne angeschnallt oder von vorsorgenden Mutterhänden festgehalten zu
werden, auf seinem Reittier thront.
An Sonn- und Feiertagen ist der Besuch des Gartens schon an den Vonnittagen
sehr lebhaft, an den sogenannten billigen Sonntagen, die an jedem erslen Sonntag
des Monats stattfinden, aber steigert er sich zur Völkerwanderung, da kommen die
weniger bemittelten, die kinderreichen Familien, fiir die sonst der Eintritt unerschwing-
!ich, die fiir 25 Pf. pro Person sich und den ihrigen eine Sonntagsfreude gönnen.
Mit Paketen, Taschen und Rucksäcken, in die der Tagesproviant verpackt ist. staut
sich schon in den Vonnittagsstunden an den Billett-
schaltern die Masse. Die Käfige sind belagert von einer
frohen, schaulustigen Menge, und besonders sind es die
Stände 'der Raubtiere, der Affen und der Seehunde, die
die Menge gewaltig fesseln. Missie ist natürlich der
Clou, und der Wärter hat dann ein schweres Amt, denn
er muß nicht nur seinen Schützling unterhalten, sondern
er soll sich auch den vielen zum Teil recht drastischen
Fragen, die der wißbegierige Besucher an ihn richtet,
gewachsen zeigen. Aber Missie müßte kein weibliches
Wesen sein und außerdem der verwöhnte Liebling des
Gartens, wenn sie nicht manchmal ihre Launen hätte
und allen Liebkosungen und ermunternden Zurufen von
seilen. des Publikums mit ruhig kühlei\ Ablehnung. be-
gegnete. Mit kaltem, verachtendem Blick mustert si.e die
„hinter dem Gitter", und selbst die schönsten Lecker-
bissen, Zucker und Schokoladenstückchen vermögen nicht,
sie aus ilirer unerschütterlichen Ruhe aufzurütteln. In
den Alleen des Gartens ist ein ewiges langsames Auf-
und Niederwogen, Kinderwagen schieben sich dazwischen,
und kleine Geschwister, die sich gegenseitig angefaßt
halten, um sich nicht zu verlieren, hindern die Menge
arn schnellen Ausschreiten. Aber kein Ärger macht sich
Luft, der Berliner hält’s mit seiner Devise: „Immer mit
die Ruhe!" Sonntagsfreude auf allen Gesichtern, Lachen
und Kichern ringsumher, denn der sprichwörtliche Witz
des Berliners feiert wahre Orgien. Da hört man eitie verzweifelte Kinderstimme
attfschreien, alles drängt sich ttnt den Fassungslosen, aber es ist nicht viel aus ilirn
herauszukriegen, cr hat seine Eltern in dem Trubel verloren und zeigt sich allen
Trostworten gegenüber ntizugänglich.
Da gab es noclt bis vor zirka zweijahren ein eittfaches Verfahren, um die beiderseitig
unglücklichen Parleien zusammenzuführen. Man stellte das Kind aufs Musikpodium,
und ein Musiker gab ein jedetn Berliner bekanntes Trompetensignal. Und das hatte
seine Wirkung! Die unglückliche Mutter erschien auf der Bildfläche: „in den Armen
lagen sich beide und weinten vor Schmerz ttnd vor Freude“. Und das Publikum
freute sich mit ihnen. Diese schöne Sitte ist nun abgeschafft; die „ausgeblasenen
Kinder» gehören bald der Vergessenheit an. Damit ist nttn auch der „große Augen-
blick" im Leben der Kinder daltin, jener Moment, da aller Attgen auf sie gerichtet
waren, und die Weltgeschichte siclt, wenn auch nur für
wenige Minuten, allein utn ihre Person drehte.
Das ist jetzt alles anders. Neuerdings wird der „verlorene
Soltn“ in einen für diese Zwecke bereitgehaltenen Raum
gebracht, in dem sich nun sang- und klanglos die Szene
des Wiederfindens abspielt. Einer nüchternen Formalität
ist der frühere „große Augenblick“ im Leben des jungen
Erdenbiirgers, der für ihn utivergeßlich war, gewichen.
Von vier bis sechs Uhr findet die Fütterung der
Tiere statt, die namentlich bei den Löwen und den See-
ltunden stets ein begeistertes Publikum anlockt. Die
Menschenmenge wächst an schönen Sommernachmittagen
beängstigend; alle Bänke und Stühle sind besetzt, die
Kellner arbeiten im Schweiße ihres Angesichts, un-
geheure Quantitäten Bier und Kaffee werden herange-
schleppt, und doch hat schon mancher, der in ruhiger
Erkenntnis des Dichterwortes: „Wer vieles bringt, wird
jedem etwas bringen“, auf die Ausführung seiner Be-
stellung gewartet, an der Wahrheit dieser Dichterblüte
zweifelnd den Heimweg angetreten, sofern er nicht vor-
gezogen hat, selbst mit Aufopferung seines Lebens bis
ans Büfett vorzudringen. Der scltwer erreichte Labetrunk
schmeckt dann um so prächtiger, die mitgebrachten
Stullen werden ausgepackt, und bei einem ausgezeich-
neten Konzert verbringt der Berliner in beschaulicher
Ruhe seinen Zooabend.
Paul Halke: Ein Sonntag im Zoo: Piccolo und Piccola.
XXVII. 82.
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Paul Halke: Ein Sonntag im Zoo: Der Stunn auf die Kellner.
eincm Ponny, einem Esel und einem Ziegenfuhrwerk bestelit und den Kleinen Gelegen-
heit gibt, auf dem Rücken eines lebenden Tieres den Vorgeschmack kavalleristischer
Preuden zu genießen. Stolz sitzen die kleinen Reiter und Reiterinnen in ihren Sätteln,
und bewundernd ruhen die Augen ihrer Spielkameraden auf dem besonders kühnen
Gefährten, der ohne angeschnallt oder von vorsorgenden Mutterhänden festgehalten zu
werden, auf seinem Reittier thront.
An Sonn- und Feiertagen ist der Besuch des Gartens schon an den Vonnittagen
sehr lebhaft, an den sogenannten billigen Sonntagen, die an jedem erslen Sonntag
des Monats stattfinden, aber steigert er sich zur Völkerwanderung, da kommen die
weniger bemittelten, die kinderreichen Familien, fiir die sonst der Eintritt unerschwing-
!ich, die fiir 25 Pf. pro Person sich und den ihrigen eine Sonntagsfreude gönnen.
Mit Paketen, Taschen und Rucksäcken, in die der Tagesproviant verpackt ist. staut
sich schon in den Vonnittagsstunden an den Billett-
schaltern die Masse. Die Käfige sind belagert von einer
frohen, schaulustigen Menge, und besonders sind es die
Stände 'der Raubtiere, der Affen und der Seehunde, die
die Menge gewaltig fesseln. Missie ist natürlich der
Clou, und der Wärter hat dann ein schweres Amt, denn
er muß nicht nur seinen Schützling unterhalten, sondern
er soll sich auch den vielen zum Teil recht drastischen
Fragen, die der wißbegierige Besucher an ihn richtet,
gewachsen zeigen. Aber Missie müßte kein weibliches
Wesen sein und außerdem der verwöhnte Liebling des
Gartens, wenn sie nicht manchmal ihre Launen hätte
und allen Liebkosungen und ermunternden Zurufen von
seilen. des Publikums mit ruhig kühlei\ Ablehnung. be-
gegnete. Mit kaltem, verachtendem Blick mustert si.e die
„hinter dem Gitter", und selbst die schönsten Lecker-
bissen, Zucker und Schokoladenstückchen vermögen nicht,
sie aus ilirer unerschütterlichen Ruhe aufzurütteln. In
den Alleen des Gartens ist ein ewiges langsames Auf-
und Niederwogen, Kinderwagen schieben sich dazwischen,
und kleine Geschwister, die sich gegenseitig angefaßt
halten, um sich nicht zu verlieren, hindern die Menge
arn schnellen Ausschreiten. Aber kein Ärger macht sich
Luft, der Berliner hält’s mit seiner Devise: „Immer mit
die Ruhe!" Sonntagsfreude auf allen Gesichtern, Lachen
und Kichern ringsumher, denn der sprichwörtliche Witz
des Berliners feiert wahre Orgien. Da hört man eitie verzweifelte Kinderstimme
attfschreien, alles drängt sich ttnt den Fassungslosen, aber es ist nicht viel aus ilirn
herauszukriegen, cr hat seine Eltern in dem Trubel verloren und zeigt sich allen
Trostworten gegenüber ntizugänglich.
Da gab es noclt bis vor zirka zweijahren ein eittfaches Verfahren, um die beiderseitig
unglücklichen Parleien zusammenzuführen. Man stellte das Kind aufs Musikpodium,
und ein Musiker gab ein jedetn Berliner bekanntes Trompetensignal. Und das hatte
seine Wirkung! Die unglückliche Mutter erschien auf der Bildfläche: „in den Armen
lagen sich beide und weinten vor Schmerz ttnd vor Freude“. Und das Publikum
freute sich mit ihnen. Diese schöne Sitte ist nun abgeschafft; die „ausgeblasenen
Kinder» gehören bald der Vergessenheit an. Damit ist nttn auch der „große Augen-
blick" im Leben der Kinder daltin, jener Moment, da aller Attgen auf sie gerichtet
waren, und die Weltgeschichte siclt, wenn auch nur für
wenige Minuten, allein utn ihre Person drehte.
Das ist jetzt alles anders. Neuerdings wird der „verlorene
Soltn“ in einen für diese Zwecke bereitgehaltenen Raum
gebracht, in dem sich nun sang- und klanglos die Szene
des Wiederfindens abspielt. Einer nüchternen Formalität
ist der frühere „große Augenblick“ im Leben des jungen
Erdenbiirgers, der für ihn utivergeßlich war, gewichen.
Von vier bis sechs Uhr findet die Fütterung der
Tiere statt, die namentlich bei den Löwen und den See-
ltunden stets ein begeistertes Publikum anlockt. Die
Menschenmenge wächst an schönen Sommernachmittagen
beängstigend; alle Bänke und Stühle sind besetzt, die
Kellner arbeiten im Schweiße ihres Angesichts, un-
geheure Quantitäten Bier und Kaffee werden herange-
schleppt, und doch hat schon mancher, der in ruhiger
Erkenntnis des Dichterwortes: „Wer vieles bringt, wird
jedem etwas bringen“, auf die Ausführung seiner Be-
stellung gewartet, an der Wahrheit dieser Dichterblüte
zweifelnd den Heimweg angetreten, sofern er nicht vor-
gezogen hat, selbst mit Aufopferung seines Lebens bis
ans Büfett vorzudringen. Der scltwer erreichte Labetrunk
schmeckt dann um so prächtiger, die mitgebrachten
Stullen werden ausgepackt, und bei einem ausgezeich-
neten Konzert verbringt der Berliner in beschaulicher
Ruhe seinen Zooabend.
Paul Halke: Ein Sonntag im Zoo: Piccolo und Piccola.
XXVII. 82.