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Die Kunst-Halle — 1.1895/​1896

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Nr. 6
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Die schöpferische Kraft
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https://doi.org/10.11588/diglit.62512#0105

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Nr. 6

Die Kunst-Halle. g>-o-

87

befinden. Die modernen Museen sind nur die In-
validenhäuser der Kunst, welche wir von Zeit zu Zeit
als Philosophen, als Denker besuchen sollen: man
muß durchgehen, einige Zeit nachdenken, mit Achtung
prüfen und sich zurückziehen.
Rn: zu schaffen muß man in der Entwicklung
und im Leben stehen. Man muß seine Stirn beugen
vor dem großen Werke Gottes: der Natur, sie an-
beten in ihrer unendlichen Größe, indem man Erde
und Himmel umfaßt: man muß auf die Kniee sinken
vor dem kleinsten Grashalm und lange und zärtlich
die kleinste Bünne betrachten. Dann, wenn man durch-
tränkt ist von den Wundern der Schöpfung, wenn
nian bewegt ist durch die geheimnißvolle Beziehung
der Wesen und der Dinge, kann man versuchen das
Kunstwerk zu verwirklichen.
Und um die schöpferischen Kräfte zu sammeln,
um sie zu nützen, um sie zu befruchten, da braucht
es auch etwas anderes als Museen, Schulen und
jährliche Ausstellungen: es bedarf dessen, was wir
Leute aus dem Volk das „Salzkorn" nennen, es be-
darf eines Glaubens! In der Seele eines Volkes
muß die Kraft wohnen, die dem schöpferischen Trieb
Richtung giebt, die Betrachtung der Trümmer, welche
aus alten Kulturen herstammen, kann diese Kraft
ebensowenig ersetzen wie die Theorien von Professoren
nnd die Ausstellungsprogramme.
Ohne zu den Aegyptern und Assyrern zurückzu-
greifen, nehmen wir als Beispiele zivei große künst-
lerische Blüthezeiten, welche uns nahe genug sind,
daß wir sie in gewisser weise fassen können: die,
welche den Parthenon von Athen, und die, welche
Notredame von Paris hervorgebracht hat. Ich
glaube nach reiflicher Ueberlegung nicht, daß man
als schöpferische Blüthe bezeichnen kann, was wir
gewöhnlich die Renaissance nennen, denn nach meiner
bescheidenen Ansicht sind Bramante, Raffael und
Michelangelo ungeheure, riesige, furchtbare, bewunde-
rungswürdige Talente, aber sie sind keine Neuerer.
Das Römische Pantheon auf den Athenischen Par-
thenon setzen, das ist kühn, nicht genial. — Glauben
Sie daß, um die Schöpfung des Parthenon zu be-
stimmen, perikles nöthig hatte alte ägyptische Statuen
und alte assyrische Vasen zusammen bringen zu lassen,
mn daraus eine Gallerte zu machen, mit dem einzigen
Zweck phidias und Iktinus zu begeistern? Ich sehe
eine Gesellschaft von Männern mit gemeinsamen
Zielen: die Erregung des Ruhmes und die Begeiste-
rung eines gemeinsamen Glaubens gaben ihrem Genie
das Bedürfniß zu schaffen. Ihr Werk zeigt sich per-
sönlich, natürlich, im Tempel von Aegina, und gelangt
durch die Kraft der Ueberlieferung, von Trieb zu
Trieb zu den: idealen Werke, das ruhig in seiner
Größe und schön in seiner Einfachheit ist: den: Par-
thenon von Athen. Nach einem Jahrhundert zweck-
mäßiger Anstrengung vollendet der Sohn achtungs-

voll den Vater ohne sich von dem Grundziel zu ent-
fernen.
In unserem Frankreich sieht man nochmals, als
die Macht der großen Klöster sich über die Lehns-
herrn erhebt, daß selbst in dem Augenblick, wo der
Geist über den Stoff siegt, der Verstand über die
Kraft, auch in einer Gemeinschaft der Ziele, wie fort-
gerissen durch einen göttlichen Hauch, Massei: von
wunderbaren Arbeitern, welche durch fünf Iahr-
hunderte hin den schönen Boden Galliens mit Meister-
werken bedecken, um die Freude des Lebens und die
Majestät Gottes zu verherrlichen.
Bei uns ebenso wenig als in Griechenland sehe
ich bei diesen schöpferischen Thaten Museen, mn das
Bedürfniß hervor zu rufen, unsere schönen Kirchen
zu bauen: auch staatliche Akademien gab es nicht.
Die Gesellschaftsordnung, welche durch ihr ge-
meinsames Ziel einen Parthenon bestimmt hat, trägt
den Stempel perikles. Bei uns hat die große kirch-
liche und bürgerliche Bewegung des Mittelalters noch
keine persönliche Bezeichnung. Vielleicht ist der Zeit-
abstand noch nicht genügend, mn die großen Persön-
lichkeiten hervortreten zu lassen, oder gar dieser edle
Aufschwung ist unpersönlich, denn keiner der wunder-
baren Meister hat Sorge getragen, uns seinen Namen
zu überliefern.
Also beruht die treibende Kraft, welche die
schöpferische Kraft lähmt oder anspornt, auf der Ge-
sellschaftsordnung selbst und nicht auf der Einrichtung
von Museen oder Schulen. Um den Unterricht und
die Wahl der Mittel braucht man sich nicht zu sorgen,
alles das wird sich nach den Bedürfnissen der Sache
von selbst ergeben, es bedarf einer großen Sache
und wir haben keine, wenigstens keine, die zum
Schaffen treibt."
Baffier ist nicht gewandt genug mit der Feder,
um nach guter Disposition seine Thatsachen zu grup-
piren. Man muß sie sich mühsam zusammensuchen,
wenn inan seine Meinung klarer herausbringen will
als es ihm gelungen ist. Ein Hauptgrund des Ver-
falls ist ihm neben dem Fehlen der großen gemein-
samen Aufgabe der moderne Industrialismus.
Sie sagen, „es handle sich darum, von dein
Arbeiter, der von seinen: Tagewerke ermüdet ist, noch
ein wenig Muth, ein wenig Aufmerksamkeit zu ver-
langen." Men: Gott! Sie wisse:: also nicht, daß
der Arbeiter unserer Werkstätten nur noch eine Ma-
schine ist. Glauben Sie, daß ein Tischler eii: Möbel,
ein Schlosser ein Schloß macht? Ja wohl! Lin
Lehrling lernt ein Stuhlbein machen und macht Zeit
seines Lebens ein Stuhlbein; ein anderer lernt einen
Zapfen machen und macht Zeit seines Lebens einen
Zapfen; ein dritter lernt eine Fuge machen und
macht Zeit seines Lebens dieselbe Fuge; der vierte
lernt den Zapfen und die Fuge leimen und fügen,
und leimt und fügt Zeit seines Lebens den Zapfen
und die Fuge. Lin Schlosser bohrt während der
 
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