Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mannheimer Morgenblatt — 1842

DOI Kapitel:
No. 183
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.32620#0746

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
742

ten Jungfernstieg längs dem alten Zuchthause und Holzdamm verlän-
gert zu sehen, schwebt in Gefahr, nicht in Erfüllung zu gehen, weil
kleinliche Privatrücksichten selbst dieser Verschönerung sich widerfttzen.
Der Platz, auf welchem früher der Gasthvf, die alte Stadt London,
gestanden, soll an dm Bankier Sillcm für den Ungeheuern Preis von
475,000 Mk. verkauft worden sein.
Berlin, 30. Juli. Einen wahrhaft betrübenden Eindruck hat eine
traurige Realität gemacht. Viele hier wollten ihren Augen nicht trau-
en, als sie in den heutigen Zeitungen lasen: „Der russische Kaiser
habe aus Anlaß des Festes und aus höchsteigener Bewegung sämmt-
liche preußische Unterthanen, wegen Zolldesraudation zur Deporta-
tation nach Sibirien verurtheilt waren, begnadigt." Und warum macht
dieser Artikel einen so tiefen schmerzlichen Eindruck? Weil es bisher in
keiner hiesigen Zeitung zu lesen war, daß in der That preußische
Staatsbürger nach Sibirien transportirt wurden wegen eines Ver-
gehens, das ihnen hier einige Wochen oder Mona.e correctioneller
Strafen zugezogen hätte.
Paris, 1. August. Man rechnet, daß gestern über 100,000 Per-
sonen die Notredamekirche besucht haben, um dem verstorbenen Herzog
von Orleans die letzte Ebre zu bezeigen. Auch heute drängt sich die
Menge so sehr nach der Kirche, daß, um die Ordnung zu erhalten,
eine doppelte Reihe Nationalgardcn vom Eingang bis zum Catafalk
ausgestellt ist.
— Die Trauereinrichtvngen in der Notredamekirche, welche im
größten Maßstab angeordnet waren, sind innerhalb zwölf Tagen und
Nächten (vom 18. bis 30. Julis) von 6000 Individuen yergestellt worden.
— Die Wahl des Präsidenten und der Vicepräsidenten der Depu-
tirtenkammer wird am 3. August stattsinden: gleich darauf soll der Ge-
setzentwurf, die Regentschaft betreffend, eingebracht werden.
Durch königl. Ordonnanz vom 31. Juli wird der Unterpräfcct des
Arrondissements von Ploormel abgesetzt, weil er in einem zur Veröf-
fentlichung bestimmten Schreiben die nicht gegründete Angabe gemacht,
daß ibm bei Gelegenheit der allgemeinen Wahlen von Seiten des Mi-
nisteriums die Weisung zugekommen wäre, die Wohl des lcgitimisti-
schen Candidaten gegen den Candidaten der dynastischen Opposition zu
unterstützen.
Strasburg, 28. Juli. Bis jetzt wurden die elsassischen Etien-
bahnen nicht zur Expedition von Briefen und zum Postdienste über-
haupt benutzt; vom 1. August an tritt indessen diese Einrichtung in's
Leben, wodurch die Beförderung der Correspondenz nach dem Süden
Frankreichs eine außerordentliche Beschleunigung gewinnt. Die Erd-
arbeiten für die Bahn von hier nach Paris werden im nächsten Mo-
nat versteigert; das Nivellement von hier nach der ersten Sektion (Lan-
gersheim) ist bereits vollendet.
Loribon, 30. Juli. Die Bewegung unter den arbeitenden Clas-
sen erregt noch immer viele Besorgnisse. Die Arbeiter von Bilston, bei
Birmingham, haben alle möglichen Gewaltthätigkeiten verübt. Arme
Arbeiter, welche der Coalition nicht beitreten wollten, wurden jämmer-
lich mißhandelt.
— In Liverpol traf gestern Abend das Dampfschiff „Caledonia"
aus Boston und Halifar ein, welches die Ueberfahrt von letzterm Platze
in 10 Tagen gemacht hatte. Unter den 57 Passagieren befand sich die
Tänzerin Fanny Elsler, welche sich bekanntlich in Amerika Lorbeeru
und Geld in Menge erworben hat.
Madrid, 25. Juli. An der portugiesischen Gränze ist jetzt ein
4000 Mann starkes Armcecorps ausgestellt, um die Räuberbanden,
die in jenen Gegenden Hausen, zu unterdrücken.

Eine Anstellung.
(Non R. - r.)
— Es war ein armer Teufel, den die Dürftigkeit vor der Zeit
alt < 'macht hatte. So oft er in der armseligen Mansarde die er be-
wohne, seine Blicke und Gedanken auf seine Frau, die ebenfalls vor
der Zeit grau geworden, und auf seine beiden Kinder richtete, die durch
Hunger und Mangel elend und schwächlich waren, seufzte er schmerz-
lich; aber keine Klage kam über seinen Mund. In solchen Augenbli-
cken schmerzlicher Beklemmung, kehrte er seine traurigen Betrachtungen
auf sich selbst; er versetzte sich in die Jahre zurück, die er durchlebt
hatte und versenkt, sich in die Vergangenheit um den Leiden zu entge-
hen, welche die Gegenwart über ihn verhängte und mit welchen die
Zukunft ihn bedrohte. Er ricf sich seine Erinnerungen zurück, wie alte
Freunde, bei welchen man Zuflucht sucht.

Seit seiner frühesten Jugend hatte er stets gesucht, einem Elend zu
entgehe», welches ihn unausgesetzt verfolgte; er sab seü,e Kräfte von
einem Geschicke überwältigt, gegen welches alle Beharriichfx^
Ankämpfen vergebens war. Nachdem er cs muthig und
mit allen jenen unsicheren und auf vorübergehende Zufälligkeiten ge-
gründeten Gewerben versucht batte, welche auf der tiefsten S,ufe der
menschlichen Betriebsamkeit Vorkommen, war ihm zuletzt keine andere
Hülfsquclle mehr übrig geblieben, als der Ertrag der Arbeit seines
Weibes, dessen Kräfte durch das Uebermaß der Anstrengungen und
durch Nachtwachen beinahe erschöpft waren. Zu dem, was seine Frau
verdiente, war er kaum im Stande Etwas durch Lohn für Abschriften
die er fertigte, bcizutragen, denn man wies seine Bitten und sein An-
liegen um Arbeit zurück, wie man die Zudringlichkeit eines Bettlers
zurückweiset.
Und doch lebte in diesem durch so vieles Leid zerrütteten und durch
so harte Demüthigungen zerdrückten Herzen ein mächtiger und allen
Widerwärtigkeiten trotzender Ehrgeiz.
Diese Seele, welcher dem Anschein nach alles versagt war, was
Freude und Glück gewähren kann, hatte sich einen Traum geschaffen,
in welchen sie sich flüchtete, um in ihm die größte innerste Seligkeit
zu genießen. Die Phantasie ist eine Fee, welche den Kummer ein-
schläfert, indem sie den Geist angenehm beschäftigt.
Unscrm Dulder zeigte sie eine Aussicht, welche himmlische Reize für
ihn hatte.
Schon seit seiner Jugend und seit der Zeit, wo er sich zu einem
bestimmten Geschäfte entschließen mußte, hatte» die glänzende Lage, die
Mußestunden und die Besoldungen, welche mit einer Anstellung ln der
Verwaltung verbunden sind, ein lüsternes Verlangen nach einer An-
stellung in ihm erregt. ES ist schwer zu sagen, warum seine Wünsche
gerade diese Richtung nahmen, aber er konnte sich ihrer nicht entschla-
gen. Ohne Zweifel war er schon frühzeitig durch jenen Glanz, ln wel-
chem die höhern Beamten zu strahlen pflegen geblendet worden. D.r
Anblick dersselben hatte in ihm das Verlangen nach einer Stelle rege
gemacht, Mio Schüler durch den Anblick eines Tambours für kriegen-
sehen Muth entflammt werde».
AusangS war er bescheiden in seinen Wünschen'.' Bei der Erziehung,
welche er erhallen hatte und bei der Stellung seiner Familie durfte er
wohl aus ein Supernumeriat hoffen; von da hätte er sich bis zum Po-
sten eines Erpeditionärs emporschwingen können; er konnte Commis
werden; diese Gränze zu überschreiten, wagte er selbst in seinen ge,
heimsten Wünschen nicht. Doch das Geschick erwies sich erbarmungs-
los gegen ihn. Ein unerwartetes Ereigniß ruimrte seine Eltern; nach
dem Tode aller derjenige», welche ihm theuer waren, fand er sich un-
glücklich und verlassen; von da an begann für ihn eine lange Reihe
der härtesten Prüfungen und jener schreckliche Kampf gegen das Geschick.
Nichts blieb ihm mehr, als seine Lieblingsträume.
Je älter er wurde, desto stärker und lebhafter wurden ln ihm die
Begierden nach der Administratur; sie wurden bei ihm zur siren Idee
seine Büreausucht artete in eine Art von Narrheit aus.
Seit dreißig Jahren hatte er nur eine einzige Schrift gelesen: ein
altes Budget aus der Kemerzelt. Tag und Nacht hatte er cs durchge-
blättcrt. ES war seine Bibel, sein Evangelium. Er ergözte sich stets
von neuem an den Zahlenreihen, an den Aufzählungen der Emolu-
mente, an der Liste der Nomenelatur der Stellen, an den Titeln au
den Besoldungöetats, an den ungeheuren Totalsmmnen, an den Reihen
der Millionen, gleich wie Don Quixote nicht müde wurde, sich an den
großen Thaken der Ritterschaft zu entzücken und zu begeistern. Das
Budget hatte in seinen Augen bewundernswürdige Erhabenheiten; er
sah darin den ganzen Pomp und die Wunder des Palastes der Ka-
lifen, jenes Sitzes der größten Geister, des Feen-Königreiches und al-
ler jener glänzenden Wunder der arabischen Mäbrchep, von welchen
er seine Frau den Kindern zuweilen vorerzählen Hörte.
Geblendet von diesem Prunk und endlich gewöhnt, immer mit die-
sen eingebildeten Millionen zu thun zu haben, brachte er sich dahin,
seine Armuih beinahe gänzlich zu vergessen.
Das Budget des Kaiserreichs reichte hin, ihn in Fröhlichkeit zu er-
halten. . -O- . ^ ,
Mehr als einmal hatte er beschlossen, diesem Inbegriff Ms Relch-
thumeö näher zu kommen. Oft sah man ihn um die Hotels der Mi-
nister schleichen; es verging fast kein Monat, in welchem er nicht eine
Bittschrift verfaßt hätte, welche er so rührend als möglich zu machen
suchte. Aber jedesmal war irgend ein Hinderniß da, um seine Pläne
 
Annotationen