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Mannheimer Morgenblatt — 1842

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No. 146
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https://doi.org/10.11588/diglit.32620#0585

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579

Dev MörSer auf hoher See.
In Philadelphia ward in den Tagen vom 13. bis 23. April d. I.
folgender Proceß wegen Mords auf hoher See verhandelt. Der An-
geklagte war Holmes, vormaliger Unterschiffer auf dem „William
Brown," ein Mann von sanften, keineswegs auf Grausamkeit und
Bosheit deutenden Gesichtszügen. Der Betreff der Klage erhellt aus
folgender Aussage der Zeugin Mistreß Brigitta Mac Gee. „Ich be-
fand mich," sagte sie, „an Bord des William Brown. Wir verließen
Liverpool am 12. März 1841; am 19. April in der Nacht stießen wir,
der amerikanischen Küste zusegelnd, auf eine Eisbank. Wir lagen alle
in unfern Schlafstellen; eine Stimme rief: das Schiff sinke, und wir
eilten aufs Verdeck. Als ich hinauf kam, ließ die Mannschaft die Scha-
luppe und das Canoe ins Wasser hinab. Kaum war die Schaluppe
flott, als mehrere Passagiere vor mir hineinsprangen; ich folgte. Als-
bald kam Holmes zu mir und befahl mir, ins Schiff zurückzukehren.
Ich weigerte mich, und er verließ mich, ohne weiter ein Wort zu sagen.
Die Schaluppe stieß nun vom Schiffe ab, sie hatte 33 Menschen an
Bord. Vier Personen einer schottischen Familie stiegen noch ein, aber
eine der Schwestern war auf dem Verdeck des sinkenden Schiffes zurück-
geblieben; Holmes kehrte dahin zurück, nahm das junge Mädchen,
Namens Jsabella Edgar, auf die Schulter und ließ sich am Seil, das
die Schaluppe ans Schiff band, herunter. Jetzt wurden die Taue der
beiden Barken gekappt, und alsbald verschwand das Schiff unter dem
Wasser. Es war ungefähr 11 Uhr Nachts. Wir hatten nicht Zeit
gehabt, unS zu bekleiden, wir waren beinahe bloß. Mehrere Matrosen
beraub en sich ihrer Kleider, um uns zu bedecken. Die Barke, worin
sich der Capiicin befand, und die Schaluppe blieben beisammen bis zum
Tagesanbruch. Wir hatten einen Compaß und eine Karte; wir waren
280 englische Meile» vom Lande entfernt. Morgens verlas der Capi-
tän die Namen der Mannschaft nnd der Passagiere in der Schaluppe.
Den Tag über bals Jedermann rudern. Eö war ein Dienstag. In
der folgenden Nacht, gegen 10 Uhr, fing man an, Passagieren über
Bord zu werfen. Der erste war ein gewisser Owen Riley; er flclne
eine der Schottländerinnen an, die Matrosen um Schonung seines Le-
bens zu bitte». Ich weis nicht, wie der hieß, der ihm in das Fluchen«
grab folgte. Der Dritte, der ins Meer geworfen wurde, war Frank
Askins; er bot den Matrosen 3 Sovereigns, seine ganze Habe, wenn
sie ihn bis zum andern Morgen leben ließen; auch er flehte zu der
Schottländeri», Mistreß Edgar, von welcher er glaubte, daß sie ei-
kligen Einfluß auf das Schiffsvolk besitze, Fürsprache für ihn zu tbun.
Es half ihm nichts. Frank Askins hatte zwei Schwestern auf der
Schaluppe, die eine, Namens Marp, erklärte, sie würde ihrem Bru-
der in das Meer nachspringcn, oder man könne sie ihm nachsenden.
Dies geschah. Man sucht dann die andere Schwester, Ellen, und
entledigte sich ihrer aus ähnliche Weise. Ein gewisser James Black,
den Holmes gepackt hatte, wurde verschont, indem ich letzteren sagen
hörte: Mann und Frau darf man nicht scheiden. Neben mir saß
Charles Coalin; Holmes trat auf ihn zu: Mein lieber Holmes,
sagte Coalin, Ihr werdet mich doch nicht opfern? —Ja Karlchen,
antwortete Holmes, Ihr müßt auch den Sprung machen. — Dies
setzte Holmes sogleich in Vollzug. Coalin war der letzte, denn ich
ins Meer werfen sah. Zwei Passagiere waren den Nachsuchurgen der
Matrosen entgangen. Am Morgen wurden sie entdeckt; der eine lag
unter einer Dank, der andere unter dem Compaßhäuschen verborgen.
Eie singen an zu rudern; als sic müde waren, bemächtigten sich ihrer
Matrosen und warfen sie ins Wasser. Anderhalb Stunden später
wurden wir vom „Crescent" ausgenommen, der unsere Nothsignale be-
merkt hatte. Bei unserer Abfahrt von Liverpool bestand das Schiffs-
volk aus 17 Wann, den Capitän mit inbegriffen. Neun von ihnen
und der Lieutenant schifften sich auf der Schaluppe ein. Sechzehn Pas-
sagiere wurden ins Meer geworfen, und siebzehn gerettet, darunter
zwei Ehegalten, Black und Patrick, die ihre Weiber bei sich hatten.
Während Zs" dieser fürchterlichen Erecution war das Meer ruhig,
es ging kein Wmd; es regnete blos. Wir hatten drei Stück Zwiback,
wenig Fleisch, einen Vvrraih Wasser. In der ersten Nacht war die
Schaluppe trocken, m der zweiten war es nöthig auszuschöp^en, zu-
meist in der Folge des Regens. Das Bord des Fahrzeuges ragte
ziemlich hoch aus dem Wasser. Einige EiStrümmer schwammen um
"ns herum." Die Zeugin erklärte dann, sie habe ihren Oheim Georges
Dutfie, der sie begleitete, sterben sehen; sie habe zwar nicht gesehen,
wie Holmes alle diese Unglücklichen ins Wasser warf, aber wol seine
Strmme gehört, und wie ihn seine Schlachtvpfer um Gnade anflehten.

Als sich die Schaluppe und das Canoe trennten, rief Holmes dem
Capitän zu: Capitän Harris! wir werden das Los ziehen müssen.
— Ich weis, was Ihr vorhabt, antwortete dieser; ich will nichts weiter
davon hören. — Wir waren ursprünglich 68 Passagiere; ein Kind
starb unterwegs, 31 gingen mit dem Schiffe unter, und wir waren
33 in der Schaluppe. Die Zeugenaussagen der übrigen Frauen be-
stätigten obige Thatiachcn. Sarah Carr: Ich hörte das Geschrei
Rileys. James Macavoy hat um fünf Minuten Frist, ehe man
ihn ins Wasser würfe; ein Neger von der Schiffsmannschaft gestattete
sie ihm! Ich hörte ihn beten, dann schleuderte man ihn hinaus. Nach-
dem die Matrosen das scchszehute Schlachtopfer geliefert, sahen sich die-
selben einander an, ob cs nichts mehr zu thun gäbe. Einer rief den
Frauen zu, keinen männlichen Passagier zu verbergen, denn bei Tages-
anbruch müßten diese doch sterben. — Nach diesen Aussagen und ge-
pflogener Vertheidigung, die sich um den Beweis der Nstbhülfe drehte,
ward Holmes nur zu fünfjähriger Einsperrung im Graf-
schaftsgefängniß verurthcilt.

BunteS.
ff In der riesenhaften Orangerie von Versailles wächst ein Pome-
ranzenbaum „der große Bourbon" genannt, der jetzt volle vierhundert
ein und dreißig Jahre alt ist. Er ist so groß, daß cs nothwendig ge-
worden ist, seine Aeste durch Drahtseile zu befestigen. Er wird wohl
noch lange Jahre bestehen, denn trotz seines Alters ist er frisch und
gesund, und bringt mit unerschöpfter Kraft Früchte und Blüthen in
der reichsten Fülle empor. Er wurde 1411 zu Pampeluna, der Haupt-
stadt von Navarra gepflanzt und kam 89 Jahre später als Geschenk
nach Frankreich. Es war der erste Orangenbaum in Frankreich, und
aus seinem ganze Wege von den Pyrenäen bis Chantilly strömt das
Volk von weit und breit zusammen, ihn zu sehen. —
ff Unter den Soldaten des dritten französischen Linienregiments,
welche aus Oran nach Frankreich zurückgckehrt sind, befindet sich ein
alter blinder Kriegsmann, den ein Kind von 18 Jahren führt. Die
Araber nahmen ihn gefangen, stachen ihm die Angen aus und wollten
ihn eben umbringen, als sie von Franzosen überfallen und niederge-
hauen wurden. Nur ein einziges Mitglied jener grausamen Araberfa«
milie entging dem Blutbade: eS ist der Führer des alten blinden Soldaten.
-j- v,-. Podracca bringt eS zur öffentlichen Kunde, daß eine neun-
zigjährige Nonne in Vendig zum dritten Male neue Zähne bekom«
men habe, ein Fall, der in der Antropologie zu den seltensten Er-
scheinungen gehören dürste. Der Berichterstatter fügt hinzu: Die erste
Zahnuug war eine sehr schwierige gewesen; die zweiten Zähne verlor
die würdige geistliche Frau in ihrem fünf und vierzigsten Lebensjahre;
bei der Verdoppelung dieser Jahre stellte sich ein neuer Zahnprozeß
ein, der wieder sehr kritisch zu werden drohte, und zeitweise mit den
heftigsten Schmerzen und Beschwerden verbunden war. Sie unterlag
während dieser operircndcn Wiedergeburt der Zähne, von welchen sechs
nach Verlauf von drei Jahren hartnäckig durchgedrungen waren, also
in einem Lebensalter von 93 Jahren.

ff Einem Mann wurde ein Pferd gestohlen. „Das ist Ihre Schuld",
sagte Einer; „nein, es ist des Bedienten Schuld", sagte ein Zweiter;
und ein dritter endlich: „es ist de» Hausknechts Schuld." — „Sie ha-
ben Recht," sagte der Eigentbümer des Pferdes; „ich sehe, wir sind
die einzigen Schuldigen, und nur der Dieb ist unschuldig."
ff Im Jahr 1840 kamen in Frankreich 2752 Selbstmorde, worun-
ter nur 712 von Personen weiblichen Geschlechts, vor. Interessant
ist es, zu bemerken, in welchem Verhältnisse sich dieselben unter die
verschiedenen Lebensalter vertheilcn. Auf Personen unter 16 Jahren
kommen nur 20 Fälle, zwischen 16 und 21 schon 132; zwischen 21
und 30 steigt die Zahl auf 450, zwischen 30 und 40 auf 489, um
zwischen 40 und 80 ihren Kulminationhpunkt mit 610 zu erreichen.
Von da an nimmt sie wieder ab; doch beträgt sie zwischen 80 und 60
noch 446, zwischen 60 und 70 noch 332 Fälle; zwischen 60 und 70
noch 332 Fälle; zwischen 70 und 80: 133; über 80: 48. Daraus
geht hervor, daß die meisten Selbstmorde in Frankreich keineswegs in
den Jahren des Jugendtaumels, sondern gerade in jenen der reifsten
Ucberlegung vorfallen, und daß selbst noch das hohe Mer nicht selten
dem natürlichen Tode eigenmächtig vergreist.
 
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