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Mannheimer Abendzeitung — 1848

DOI Kapitel:
No. 155 - No. 181 (1. Juli - 30. Juli)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44565#0747

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4 Ronge/ der Abtrünnige.

Die Verunglimpfungen, welche in neuerer Zeit gegen Ronge, ſogar von
ſeinen frühern Verehrern verbreitet worden, gelten hauptſächlich feinen politi-
ſchen Beſtrebungen und heweiſen wie wenig man den Geiſt der religiöſen Be-
wegung erfaßte. Daß dieſe eine theoreriſch? Einleitung der nunmehr fich prak-
tiſch bekundenden Selbſterhebung des Menſchen war, will den freiſinnigen Pie-
tiſten noch immer nicht einleuchten.


ſigkeit ſeines jetzigen Auftretens weder erhöhen noch verringern kann. Es gilt
hier nur, die Sache, die in ſeiner Perſon verunglimpft werden ſoll, im Ver-
hältniß zu ſeinen Beſtrebungen zu betraͤchten.

Rongels gegenwärtige Wirtſamkeit iſt nur eine conſequente Fortſetzung der
von iym betretenen Bahn. Er hat nie für die Kirche — im orthodoren cka-
tholiſchen oder proteſtantiſchen) — Sinne gewirkt; je mehr er mit dem Leben






ſich aufgefordert, gegen jenes Kirchenweſen aufzutreten, bis er von den Wogen
des Zeugeiſtes getrieben zum Radikakismus, d. h. bis zur Wurzel der Wahr-
heit gelangte und dadurch zur Erkenntuiß, daß auf allen Gebieten des Le-
bens eine Umwandlung ſtaͤttfinden muffe.

Für dieſe radifale Umwandlung, deren Nothwendigkeit nur Diejenigen
nicht erkennen, deren Einſicht überhaupt nicht bis zur Wuͤrzel der Dinge reicht
— für dieſe iſt Ronge im Geiſt der Gegenwart, alſo auf politiſchem Oebiet
thätigg Auf welche Art er dabei zu Werk geht, gehert gar nicht zum Weſen
der Sache; ob er wie Luther ſeine Artikel an die Schloßkapelle oder an den
Laternenpfehl anſchlägt, ob er wie Thomas Münzer äuf der Straße und auf
dem Felde, oder wie Chriſtus auf dem Berge und auf dem Meere predigt, ob
er die Bauern oder „allerlei Bolf“ zum Widerſtand aufmuntert, ob er wie
Pater Abraham- gegen den Adel und die Geiſtlichkeit oder gegen die Hof-
Camarilla und die Regierungen eifert, ob er wie Abbé Sieyes eine Conſtitu-
tion entwirft oder alle und jede Conſtitution verwirft, kurz, ob er gegen den
Napſt oder gegen den Kaiſer die Waffen kehrt, — dies Alles beſtimint weder
den Werth noch Unwerth ſeiner Handlung, ſondern wird allein durch Zeit und
Umſtände bedingt. ’ '

Man verargt ihm insbeſondere, daß er ſich nicht mehr auf religiöſem
Gebiet bewege; dieß heißt aber gar nichts anderes alg auf kirchlichem, denn
aus ſeinem Hauptverbrechen — welches ihm den Zorn Zions, des geiſtlichen
und weltlichen, zuzog: aus ſeinem Anſchluß an Ddie raͤdikalen Demokraten,
ließe ſich gerade dex ſchlagendſte Beweis führen, daß er ſich auf religiöſem
und zwar auf echt chriſtlichem Gebiet bewegt! Die ariſtokratiſche Chriſtlichkeit
dergißt, daß der radikal demokratiſche Chriſtus, der nicht gekonunen war, Ftie-
den zu bringen, ſondern das Schwert, daß dieſer Ehriſtus ſich zu den Zöll-
nern und Sündern geſellte, auf den „Pöbel, mit und ohne Manſchetten“,
das meiſte Vertrauen ſetzte, keineswegs aber auf die in Amt und Würden
ſtehenden Phariſäer, mochten dieſe im Tempel oder vom Katheder — in der
Peters- oder in der Paulstirche — den waͤhren Glauben veltünden. Dieſer
Seelenkenner wußte, daß eher ein Kameel durch ein Nadelöhr geht, als daß
ein Reicher ins Reich Gottes kommt.

Die Zöllner von damals, meinen die Frommen, die nicht bis an die Wur-
zel der Dinge reichen — jene Zöllner waren zwar auch Proͤletarier, aber Lanz
andere Leute, ſie begehrten nur nach dem Reich Gottes, nur nach der Himmels-
fpeife Religion und ließen dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, ſie ſuchten nur
Arbeit im Weinberg des Herrn.

Religion, was iſt das? Seelenſtärkung, Troſt, Erbauung, Erhebung!
— Und bei der ewigen Wahrheit! ſollte das feine Religion ſein, was dẽm Ver-
ſtoßenen dex Neuzeit ein beſſeres Leben verkündet, ihın Stärkung, Troſt und
Hoffnung auf die Zukunft verleiht; was denen, die aug Noth zu Sündern wer-
den, denen, deren Seele von Sorge und Mangel bedrückt iſt, denen, die auf
die Erfüllung religiöſer Verheißungen wie auf den wahren Meſfias hoffen,
und darin die wahre Erlöſung vom Böſen: von Zuchthaus, Hunger, Veiß-
achtung, erkennen; Alles was dieſen Uuglücklichen Troſt bringt, das Jollte nicht
zum religiöſen Gebiet gehören? Das ſollte nicht mit dem inherſten Seelenleben
verwebt ſein, nicht die Seele ſtärken und erheben, nicht ſie zum Beſſern befähi-
gen? Und derjenige, welcher den Unglücklichen und Verſtoßenen den vom
Geſchick Erniedrigten, den Geſunkenen aufrichtet, ihm eine Zentnerlaſt vom
Lerzen wälzt, ſein bedrängtes Gewiſſen befreit, indem er ihm verheißt, daß der
Menſch künftig jenen Verſuchungen zum Böſen nicht mehr, wie bisher geradezu
überliefert werden darf, der ihn belehrt über ſeine heiligſten Rechte, ihn auf-
fordert ſie zu erkämpfen und nimmer zu ruhen, bis er fie erruͤngen hat —
dieſer ſollte kein Seelenhirt, kein Religionslehrer ſein?!

O Ihr Phariſär, Ihr Grauſamen und Erbärmlichen! Ihr, die Ihr an


der, habt Ihr je einen Funken göttlicher Begeiſterung in Euch gefühlt, hat je
die Religion der Menſchenliebe Eurer Herz entzündet, kennt Ihr das Weſen der
ewigen Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Freiheit? Wäret Ihr von dieſer Re-
ligion erfaßt, Ihr würdet nur den verachlen, der Eurer gleißneriſchen Formen-
tugend, Eurer hausbackenen Moral, Eurer gedankenloſen Bequemlichkeit fröhnt,
nur Den anfeinden, der mit Euch auf dem gebahnten Weg der Selbſtfucht
wandelt. Hättet Ihr eine Ahnung von der höchſten Wahrheit, Ihr würdet Euch
fragen; Geſchieht dieſe oder jene Handlung auͤs innerm Auͤtrieb, fühlt diefer Menſch
die Leiden ſeiner Mitmenſchen, handelt er in der Begeiſterung des Herzens, iſt
er, fäbig ſeinem Gefühl, ſeinex Ueberzeugung etwas zu opfern? Der Grad ſeiner
Theilnahme und Opferungsfähigkeit allein bedingte alsdann den religiöſen Werth
ſeiner Handlungen.






g Frankfurt, 27. Juli. Aus ziemlich zuverläßiger Quelle kann ich
Ihnen mittheilen, daß Mathh als Finanzminiſtet des Reichs in dasl Minifterium
eintreten wird. Die deßfallſige Ausfertigung ſoll bereits nach Wien zur Un-
terzeichnung durch den Reichsverweſer gefendet worden ſein. Die Badener wer-
den nicht wenig erſtaunt ſein, daß man der öffentlichen Meinung durch Ernen-
nung dieſes Menſchen zum Reichsminiſter ſo keck ins Geſicht fchlägt! da ſich
derſelbe durch die ſeit 7 —8 Monaten offener gewordene Darlegung ſeines ei-
gentlichen, ſo lange künſtlich verdeckten Charakters wohl wenig mehr dex Ach-
tung ſeiner engern Landsleute erfreuen wird. Nimmt doch ſogar hier in Frank-
furt, deſſen Bürger und Bewohner gewiß nicht zu den Geſinnungstüchtigſten
gebören, jeder Bilderhändler Anſtand, Mathy's Porträt, in deſſen Angeficht
ſich wohl Geiſt, aber auch die vollkommenſte Herzz und Gemüthloſigkeit ausge-
prägt findet, an dem Ladenfenſter auszuhängen. Sie können hier die Portraͤts
vieler Abgeordneten von allen Parteien neben einander ausgeſtellt finden, ſogar
jene von Hecker und dem Reichsverweſer ſah ich unmittelbar neben einander,
aber jenes des Reichsfinanzminiſters und Polizeiſchergen des Fickler werden
Sie hier nicht ſehen.

Hecker hat — ein neuer Beweis ſeiner erhabenen, edeln Geſinnungen —
ſeinen Freunden im Parlamente mitgetheilt, daß er öffentlich erklären wolle,
für ſeine Perſon auf Amneſtie zu verzichten, wenn hiedurch für ſeine Unglücks-
gefährten eine günſtigere Lage herbeigeführt werden könnte; er beabſichtigi nach
Nordamerika auszuwandern. Was wird die Reaktionsparthei dann für Vor-
wände gebrauchen, um die Freiheiten des Volkes zu unterdrücken und dem Volke
neue Laſten aufzubürden. A ‚
Die Verhaftung Fickler's, zu der erft nachträglich, wie ſich bald her-
ausſtellen wird, Gründe zuſammen geſucht werden muͤßten, hat die von ihr ge-
begten Hoffnungen noch übertroffen, denn damals wollte wohl ein kleiner Era-
voll, abex keine größere Schilderhebung herbeigeführt werden. Nun, Herr
Mathy wird, ehe er das bad. Staatsminiſterium verläßt, ſchon Sorge tragen,
daß es der Reaktion, auf lange Zeit hinaus nicht an Vorwänden fehlen wird.

S Aus der Grafſchaft Mavensberg, im Juli. Während faſt in
der ganzen Proyinz die Reaction ihre Triumphe feiert, iſt endlich bei uns ein
Funke der Empörung in die Gemüther gefallen. Freilich mußte die Reaction,
die allzuſtark wurde, ſelbſt die Veranlaſſung geben, Sie fängt an, ſich felbſt
das Grab zu graben. — Es iſt hier nämlich ein Brief bekannt geworvden , der
Lon unſerm Abg., dem Bauersmann Dallmann, an die idm befreundeten
Wähler geſandt ift, ein lithographirter Brief, deſſen Schluß lautet: um in
ſchwierigen Zeiten kein Aufſehen durch Collectiv-Unterſchriften zu erregen, iſt
Leſchloſſen worden, dieſe Exklärung von jedem einzelnen Depuͤtirten an ſeine
Wähler gehen zu laſſen.“ Er wird heimlich verbreitet und verträgt in der
That das Liht nicht, an das er nun doch gezogen wird. In dem Briefe
heißt es 3. B.: „Indem ſie (die verſchworene Partei) eine große geiſtige Be-
wegung Europa’s und des Vaterlandes anerkennen, verwerfen fic die foges
nannte Berliner Revolution mit ihren gefährlichen Conſequenzen der —
Volksſonveränttät und Infrageſtellung aller Rechtszuſtände— Weſt-
phalen will keine Reaction (Z)u 26. Der Brief macht ungeheures Aufſehen.
Wenn man es früher unter ſeiner Würde hielt, den Deputationen, welche
offenbare Reaction nach Berlin fandte, den Weg zu vertreten, wenn man, von
dem Ernſt wahrer Vaterlandsliebe und Freiheitsbegeiſterung durchdrungen, die
kleinlichen Rettungsverſuche des überreifen Polizeiſtãates zu wenig achtete, um -
ein anderes Gefühl bei ſich aufkommen zu laſſen, als heiteres Mitleid mit dem
ſchwach und kindiſch gewordenen Alter, wenn man ein unmögliches Syſtem
nicht auch dadurch verſpotten wollte, daß man es bekämpfte, alg es bereits
im Todestampfe lag, ſo ſtellt ſich doch nun die ganze Sache anders. Aus
dieſem Briefe wird erſichtlich, daß die letzten Todeszuckungen des alten Sy-
ſtems, vexwerflich und unſtttlich, wie die ganze Vergangenheit deſſelben, Gift
auf die junge Freiheit ſchleudern und die naturgemäße Entwicklung derſelben
beeinträchtigen möchten. . Unwahrheit iſt das größte Laſter, die Mutter aller
übrigen, und Unwahrheit iſt es, was aus diefem Briefe ſpricht, und was er
ſäen möchte, das iſt Zäufhung, Haß, Empörung, Bürgerkrieg. — Die großt
geiſtige Bewegung Europa's und unſeres Vaterlandes, die Herr Dallmann
anerkennt, hatte ihre Kataſtrophen in Italien, Frankreich, in Oeſterreich, in
allen, deutſchen Ländern, und am 18. und 19. März in Berlin. Die unzähli-
gen Blutopfer für die Freiheit waren die unläugbarſten Aeußerungen dieſer
großen, geiſtigen Bewegung in der That, die edidenteſten Beweile und die
erſten Reſultate derſelben. Gegen das nur — hiſtoriſche Recht der Fuͤrſten-
macht hatte, ſich das ewige und unveräußerliche Recht der Voltskraft erhoben,
der alte Umſtand der Natur:

„Wo Menſch den Menſchen gegenüberſteht,“ war wiedergekehrt, und die
Menſchheit, das Volk hatte den Sieg errungen und war wieder ſouverän ge-
worden.

Friedrich Wilhelm beſtritt dem Volke dieſen Sieg nicht, den allſeitigen und
ſtürmiſchen Forderungen ſuchte er durch die Conceſſionen vom 18. Marz zu
entſprechen dit Kataſtrophe in der folgenden Blutnacht durch das freie Wahl-
geſetz für Berlin und Frankfurt am 8. April, Dieſes Wahlgeſetz iſt, ſeiner un-
zweideutigſten Abſtammung zu Folge, ein Kind der Berliner Revolution, das
Wahlgeſetz, die Amneſtie, oder vielmehr die unbeſtrittenen Lorbeeren der Kämp-
fer, die Hauptentblbßung des Königs vor den aufgebäuften Bürgerleichen ſind,
dem Ausſpruch einer waͤhrheitlicbenden Geſchichtſchreibung zufolge, die volle Anz :
erkennung und Heiligung der Berliner Revolution.

Und dieſer Herr Dallmann will ſie läugnen und verwerfen? Das deut-
ſche Parlament, das heißt; das ganze deutſche Volk, ließ vurch den Mund
des Präſidenten Gagern die „Volksſouveränität“ proklamiren und Alle
Welt erkannte ſie jubelnd an. Und Herr Dallmann nennt:ſie gefährlich und
verwirft ſie? Jede Revolution ſtellt alte Rechtszuſtände in Frage und Herr


 
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