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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 1 (März 1910)
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Zwei Worte
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Kraus, Karl: Die Operette
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0005

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Umfang acht Seiten

Auflage 30000 Exemplare

DERSTURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

ERSTER JAHRGANG BERLIN/DONNERSTAG/DEN 3. MÄRZ 1910/WIEN NUMMER 1

INHALT: KARL KRAUS: Die Operette RUDOLF
KURTZ: Programmatisches / GLOSSEN: Liberale Rebellen
Schmock Triumphator tnsektenpulver! Insektenpulver!
DerUnfugdesReder.s Federvieh-Menuett/ADOLF LOOS:
Vom armen reichen Mann RENE SCHICKELE: Berlin/
FELIX STÜSSING ER : Einheitüche Konzerte / ELSE
LASKER-SCHÜLER: Peter Baum S. FRIEDLAENDER:
Ausgelachte Lyrik / SAMUEL LUBLINSKI: Offener Brief /
ERKLÄRUNG

Zwei Worte

Zum vierten Maie treten wir mit einer neuen Zeit-
"^clnift in die Oeffentlichkeit. Drcimal versuchte
bian, mit gröbsten Vertragsbrüchen unsere Tätig-
'* v.i ve: ' „ von den Vielzuvielen pein-

l*eh empfunden wird. Wir haben uns entschlossen,
unsere eigenen Verleger zu sein. Denn wir sind
noch immer so glücklich, glauben zu können, daß
an die Stelle des Journalismus und des Feuilletonis-
mus wieder Kultur und die Künste treten können.

Die Schriftleitung der
Wochenschrift DER STURM

^crlin im Februar 1910

Die Operette

Von Kari Kraus

Welche Elemente sind es wohl, die die unaus-
J'Prechiiche Qemeinheit dieses neuen Operetten-
^'esens zusammensetzen, und was bewirkt im
Jri,nde jene tobsiichtige Begeisterung in allen Kul-
Fn'zentren, auf welche die Erde mit einem Beben
nntwortet? Man bedenke, daß die charmante
'racht einer Offenbachschen Welt versunken ist,
"nd daß sie einst mit allen ihren Wundern nicht
j las Entzücken verbreitet hat, das heute ein
oosniakanischer Qassenhauer findet, den ein Musik-
■eldwebel geschickt instrumentiert, oder selbst nur
V er l'onfall, mit dem ein humorloser Komiker die
Worte „Njegus, Qeliebter, komm her!“ spricht. Man
^edenke, daß die Anmut Joliann Strauß’scher Wal-
z. er nicht biihnenfremder war als die Kitschigkeit
! hrer Nachahmungen. Man sage sich, daß die lieb-
'chen Werke der Lecoque, Audran, Planquette,
^Hilivan, Suppe heute durchfallen, wenn sie neu in
zene gehen; daß kein Direktor es wagt, jene
^uten J heaterstücke Millöckers, „Apajune“, „Qas-
t hr° ne“, den „Vize-Admiral“, im Repertoire zu hal-
' n> die doch schon durch einen gewissen Mehl-
t- Usatz dem musikalischen Geschmack des heu-
- Wienertums entgegenkamen. . . . Kein Zwei-
lm ^! 656 Pddo von Wohlklang, Qrazie und Humor
sich überlebt. Wir rnögen es g’auben, daß die
g. n°ch kommen wird, in der dei Freudengenius
lnes Offenbach an die Seite Mozarts tritt: heute

sehen wir ihn von dem dürftigsten Walzerspe-
kulanten verdrängt; und daß kein Ton jener Heiter-
keit aufkomme, die einst von.den Namen Orpheus,
Helena, Blaubart, Gerolstein und Trapezunt in un-
sere Herzen schlug, dafür lassen wir Herrn Victor
Leon sorgen. Man vergleiche nicht „Pariser Leben“
mit der „Lustigen Witwe“; man höre nur ein paar
Takte aus einer der unberiihmten, stets verstoße-
nen Operetten am Klavier, etwa das Lied vom hei-
ligen Chrysostomus aus Offenbachs „Schönrös-
clien“, und wenn man solchen Schimmer von dcn
Reichtümern empfangen hat, die ehedem mit dem
Tage verschüttet wurden, frage man sich, warum
wir unsere Armnt so hoch in Ehren halten .... Der
Qrund von ali dcm: Die Welt wird verniinftiger
mit jedem Tag, wodurch naturgemäß ihre Blöd-
sinnigkeit immer mehr zur Gelt.ung kommt. Sie
beschnuppert die Kunst auf ihren Wahrscheinlich-
keitsgehalt und wiinscht ihn von allen Symbolen
entkleidet. Darum hat sie das Märchen und die
Operc't« jh ' llr äc«ietische Rumpcjkammer g£-
v, orfen.

Die Funktion der Musik: den Krampf des Lebens
zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen und
die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder anzu-
regen. Diese Funktion mit der Bühnenwirkung ver-
schmolzen, macht die Operette, und sie hat sich
mit dem Theatralischen ausschliesslich in dieser
Kunstform vertragen. Denn die Operette setzt eine
Welt voraus, in welcher die Ursächlichkeit aufge-
lioben ist, nach den Qesetzen des Chaos, aus dem
die andere Wclt erschaffen wurde, munter fortge-
lebt wird und der Qesang als Verständigungsmit-
tel plausibel ist. Vercinigt sich die lösende Wir-
kung der Musik mit einer verantwortungslosen
Heiterkeit, die in diesem Wirrsal pin Bild unserer
realen Verkehrtheiten ahnen läßt, so erweist sich
die Operette als die einzige dramatische Form, die
den theatralischen Möglichkeiten vollkommen ange-
fnessen ist. Das Schauspiel kann immer nur trotz
oder entgegen dem Qedanken seine Biihnenhaftig-
keit durchsetzen, und die Oper führt durch die In-
kongruenz eines menschenmöglichen Ernstes mit
der wunderlichen Qewohnheit des Singens sich
selbst ad absurdum. In der Operette ist die Ab-
surdität vorweg gegeben. Hier klafft kein Ab-
grund, in dem der Verstand versinkt; die Bühnen-
wirkung deckt sich mit dem geistigen Inhalt. Im
Schauspiel siegt das Schauspielerische auf Kosten
des Dichterischen, denn um uns zu Tränen zu rüh-
ren, ist es ganz gleiehgültig, ob Shakespeare oder
Wildenbruch die Qelegenheit bietet; in der Oper
spottet das Musikalische des Theatralischen, und die
natürliche Parodie, die im Nebeneinander zweier
Formen entsteht, macht auch den tatkräftigsten
Vorsatz zu einem „Qesamtkunstwerk“ lächerlich.
Das Theater ist die Profanierung des unmittelbaren
dichtertschen Qedankens und des sich selbst be-
deutendcn musikalischen Ernstes; es ist der Hemm-
schuh jedes Wirkens, das eine „Sammlung“ bean-
sprucht, anstatt sie durch die sogenannte „Zerstreu-
ung“ erst herbeizuführen. Aeschylos wird an dem
Ausbrcitungsbedürfnis des letzten Komödianten zu
Schandcn, und die Andachtsübungen einer Wagner-
oper sind ein theatralischer Nonsens. Zu einem Qe-
samtkunstwerk im harmonischen Qeiste aber ver-
mögen Aktion und Qesang in der Operette zu ver-
schmelzen, die eine Welt als gegeben nimmt, in der

sich der Unsinn von selbst versteht und in der er
nie die Reaktion der Vernunft herausfordert. Offen-
bach hat in seinen Reichen phantasiebelebender Un-
vernunft auch für die geistvollste Parodierung des
Opernwesens Raum: die souveräne Pianlosigkeit
der Operette kehrte sich bewußt gegen die
Lächertichkeit einer Kunstform, die im Rahmen
einer planvollen Handlung den Unsinn erst zu Ehren
bringt. Daß Operettenverschwörer singen, ist
natürlich, aber die Opernverschwörer mei-
nen es ernst und schädigen den Ernst ihres Vor-
habens durch die Unmotiviertheit ihres Singens.
Wenn nun der Qesang der Operettenverschwörer
zugleich das Treiben der Opernverschwörer pa-
rodiert, so ergibt sich jene doppelte Vollkommen-
heit der Theaterwirkung, die den Werken Offen-
bachs ihren Zauber erluilt, weit über die Dauer der
politischen Anzüglichkeiten hinaus, auf welche die
Nichtversteher seines Wesens den größten Wert
legen. An der Regellosigkeit, mit der sich die Er-
oignisse in de r Oper.ette, vollzjehcn. nimmt nur
ein verrationalisiertes Theaterpublikum Anstoß. Der
Qedanke der Operette ist Rausch, aus dem Qe-
danken geboren werden; die Niichternheit geht
leer aus. Dieses anmutige Wegspülen aller logi-
Achen Einwände, und dies Entrücken in eine Kon-
vention übereinander purzelnder Begebenneiten,
in der das Schicksal des Einzelnen bei einem
Chorus von Passanten die unwahrscheinlichste
Teilnahme findet, dies Aufheben aller sozia-
le'n Unterschiede zum Zweck der musikalischen
Eintracht, und diese Promptheit, mit der der
Vorsatz eines. Abenteuerlustigen: „Ich stürz mich
in den Strudel, Strudel hinein“ von den Unbe-
teiligten bestätigt und neidlos unterstützt wird, so
daß die Devise: „Er stürzt sich in den Strudel,
Strudel hinein“ lauffeuerartig zu einem Bekenntnis
der Allgemeinheit wird — diese Summe von heiterer
Unmöglichkeit bedeutet jenen reizvollen Anlaß,
uns von den trostlosen Möglichkeiten des Lebens zu
erholen. Indem aber die Qrazie das künstlerische
Maß dieser Narrheit ist, darf dem Operettenunsinn
ein beträchtlicher erzieherischer Wert zugesprochen
werden. Ich kann mir denken, daß ein junger
Mensch von den Werken Offenbachs, die er in einem
Sommertheater zu sehen bekommt, entscheidendere
Eindrücke empfängt, als von jenen Klassikern, zu
deren verständnisloser Empfängnis ihn die Pädago-
gik antreibt. Vielleicht könnte ihm das Zerr-
bild der Qötter den wahren Olymp erschließen.
Vielleicht wird seine Phantasie zu der Bewältigung
der Fleißaufgabe gespornt, sich aus der „Schönen
Helena“ jenes Büd der Heroen zu formen, das ihm
die Ilias noch vorenthält. Und er zieht aus der bu-
kolischcn Posse, die die Wunderwelt des Blaubart
einleitet, mehr lyrische Stimmung, von dem spaßi-
gen Frauenmord mehr echtes Qrauen und Roman-
tik, als ihm Dichter bieten können, die es darauf
abgesehen haben. Von dem Entree eines Alcaden,
den zwei Dorfschönen um seine Perücke lierum-
drehen, mag ihm das Bild der lächerlichen Hilflosig-
keit in Erinnerung bleiben, wenn sich ihm einst die
Kluft zwischen Qesetz und Leben öffnet, und
alle Ungebiihr in Politik und Verwaltung offenbart
sich ihm schmerzlos in der Verwirrung, welche die
Staatsaktionen der Operette zur Folge haben.

Eine üesellschaft aber, die das Lachen geistig an-
strengt und die gefunden hat, daß sich mit dem

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