Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 2 (März 1910)
DOI Artikel:
Scheu, Robert: Kanonen aus Kirchenglocken
DOI Artikel:
Döblin, Alfred: Die Tänzerin und der Leib
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Der Amokläufer
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0014

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
findet kein gefährlicheres Hindernis, aber auch
kein gewaltigeres Reservoir auf seinem Wege als
die katholische Kirche.

Auf Qrund dieses Programmes wären Kano-
nen zu bewilligen, vorausgesetzt, daß sie aus Kir-
chenglocken gegossen sind.

Die Tänzerin und der Leib

Von Alfred Döblin

Sie wurde mit elf Jahren zur Tänzerin bestimmt.
Bei ihrer Neigung zu Qhederverrenkungen, Qri-
massen und bei ihrem sonderbaren Temperament
schien sie für diesen Beruf geeignet. Läppisch bis
dahin in jedem Schritt, lernte sie jetzt ihre federnden
Bänder, ihre zu glatten Qelenke zwingen, sie schlich
sich behutsam und geduidig in die Zehen, die Knö-
chel, die Kniee ein und immer wieder ein, überfiel
habgierig die schmalen Schultern und die Biegung
der schlanken Arme, wachte lauernd über dem
Spiel des straffen Leibes. Es gelang ihr, über den
üppigsten Tanz Kälte zu sprühen.

Mit achtzehn Jahrdn hatte sie eine kleine seiden-
leichte Figur, übergroße schwarze Augen. Ihr Qe-
sicht fast knabenhaft lang und scharfgeschnitten.
Die Stimme heli, ohne Buhlerei und Musik, ab-
gehackt; ein rascher, ungeduldiger Qang. Sie war
lieblos, sah klar auf die unbefähigten Kolleginnen
und langweilte sich bei ihren Klagen.

Mit neunzehn Jahren befiel sie ein bleiches Siech-
tum, so daß ihr Qesicht abenteuerlich fahl vor dem
blauschwarzen Haarknoten schimmerte. Ihre Qlie-
der wurden schwer, aber sie spielte weiter. Wenn
sie allein war, stampfte sie mit dem Fuße, drohte
ihrem Leib und mühte sich mit ihm ab. Keinem
sprach sie von ihrer Schwäche. Sie knirschte mit
den Zähnen über das Dumme, Kindische, das sie
eben zu besiegen gelernt hatte.

Als Ella sich in Schmerzen auf die Lippen biß, warf
sich die Mutter über das Sofa hin und weinte stun-
denlang. Nach einer Woche faßte die alte Frau
einen Fntschluß und sagte, während sie auf den Bo-
den sah, zu ihrer Tochter, sie solite ein Ende machen
und ins Krankenhaus gehen. Worauf Ella kein
Wort antwortete, nur einen gehässigen Blick auf
Jv,s p.mzUge, boffm'ngslose Qesicht v'arf.

Sie fuhr schon am nächsten Tage ins Krankenhaus.
Im Wagen weinte sie unter ihrer Decke vor Wut.
lhren leidenden Körper hätte sie anspeien mögen,
bitter höhnte sie ihn; es ekelte sie vor dem schlech-
ten Fleisch, an dessen Qesellschaft sie gebunden
w rar. In leiser Angst öffnete sie die Augen, als sie
die Qlieder betastete, die sich ihr entzogen. Wie
machtlos sie war, o wie machtlos sie war. Sie
rasselten über das Pflaster des Hofes. Die Tore
des Krankenhauses schlossen sich hinter ihr. Die
Tänzerin sah mit Abscheu Aerzte und Kranke. Die
Schwestern hoben sie weich ins Bett.

Nun verlernte die Tänzerin zu sprechen. Das Be-
fehlerische ihrer Stimme hörte sie nicht mehr. Es
geschah alles ohne ihren Willen. Man achtete aber
auf jede Aeußerung ihres Leibes, behandeite ihn mit
einem maßlosen Ernst. Täglich, fast stündlich frag-
ten sie die Tänzerin nach seinen Dingen, schrieben
es sorgfältig in Akten auf, so daß sie erst darüber
unwillig wurde, dann sich immer tiefer verwun-
derte. Sie trieb bald in eine dunkle Angst und
Haltlosigkeit hinein; ein Grauen überkam sie vor
diesem Leib. Sie wagte gar nicht, ihn zu berühren,
an ihm zu wischen, starrte auf ihre Arme, ihre
Brüste, erschauerte, als sie sich lange im Spiegel be-
sah. Ihr Mund schluckte Medizin, die sie ihm
zu trinken gab; sie begleitete die bitteren Tropfen,
wie sie hinunterrannen und sann darüber nach, was
er daraus nun machte, er der Leib, der kindische,
o der herrische, der finstere. Klein wie eine Fliege
wurde sie; und nachts stand die Todesangst hinter
ihrem Bett. Ihre Augen, die in Unheimliches sahen,
wurden steif. Die Spöttische mit dem Knabenge-
sicht war nun fromm und betete vor Anbruch
der Nacht mit den Schwestern. Die Mutter
erschrak, als sie die Tochter besuchte. So kiein-
mütig, hilfsbedürftig war ihr Kind nie gewesen.
„Wir stehen alle in Gottes Hand“, tröstete die Mut-
ter die Verfallene. die sich an ihr festhielt. „Ja“,
flüsterte die Tänzerin, „wir stehen alle in Qottes
Hand.“

Das gleichmäßige Treiben um sie beruhigte sie wie-
der, schnell schwand das Entsetzen, wie es herein-
gebrochen war. Der Widerwillen gegen die Kran-
ken im Saal flackerte auf. Und die Empörung
10

lungerte in den scharfen Zügen, daß man ihm
Ehrfurcht zolle, dem Verderbten, Verderbenden,
und über sie fortsähe, als wäre sie tot. Das be-
leidigte die Herrische. Sie sperrte den Leib ein,
legte ihn in Ketten. Es war nun ihr Leib, ihr Eigen-
tum, über das sie zu verfügen hatte. Sie wohnte
in diesem Haus; man sollte ihr Haus zufrieden
lassen. Jeden Tag schlugen sie mit Hämmern gegen
ihre Brust und belauschten das Qespräch ihres Her-
zcns. Sie malten ihr Herz auf die Brust, so daß es
alle sehen konnten; rissen an das Licht, das sich
drin versteckt hatte. 0 man beraubte sie. Mit je-
der Erage trugen sie ein Stück von ihr weg. Man
drang mit Qiften auf sie ein, die feiner waren als
Nadeln und Sonde; kamen ihr auf alle Schliche, trie-
bcn sie ganz in ihren Fuchsbau zurück. Alles nah-
men ihr die Diebe, und so wunderte sie sich nicht,
daß sie täglich schwächer wurde und totblaß da-
lag. Jetzt wurde sie erbittert und wehrte sich. Sie
belog die Aerzte, beantwortete ihre Fragen nicht,
ihren Schmerz verheimlichte sie. Und als man sie
wieder befragen wollte, machte sie sich im Bette
steif, stieß die Schwestern zurück, ja lachte in
plötzlich aufloderndem Hasse den Aerzten, die den
Kopf schüttelten, ins Qesicht und schnitt ihnen eine
höhnische Fratze.

Aber so krampfhaft tapfer konnte sie sich nicht
lange halten. Täglich gingen ohne Unterlaß die
weißen Mäntel durch die Säle, klopften an den Kran-
ken, schrieben alles auf. Täglich und stündlich ka-
men die Schwestern, brachten ihr Nahrung und
Heiltränke: daran erlahmte die Tänzerin. Sie warf
das Spielzeug wieder hin; dumpf verachtend ließ
sie mit sich geschehen. Es ging sie nichts an,
was geschah. Ein kindisches Wesen lag da, das
sie elend machte; was sollte sie um ihn kämpfen,
was sollte sie ihn um seine Ehre beneiden? Schlaff
ruhte sie in ihrem Bett. Der Leib lag wieder, ein
Stück Aas, unter ihr; um seine Schmerzen küm-
m'erte sie sich nicht. Wenn es sie nachts stach und
quälte, sagte sie zu ihm: „Sei ruhig bis morgen zur
Visite; sag es den Aerzten, deinen Aerzten, laß mich
zufrieden.“ Sie führten getrennte Wirtschaft; der
Leib konnte sehen, wie er sich mit den Doktorcr,
abfand. „Es wird Cf'hCTl protokolliert werden.“
Damit schr.itt sie der Belästigung das Wort ab.
Oft empfand sie ein lächelndes Mitleid mit diesem
dummen kranken Kindchen, das in ihrem Bette
lag. Sie teilte ruhig und gewissenhaft mit, was
ihn drückte. Gleichgültig und leicht ironisch beob-
achtete sie die Aerzte und konstatierte ironisch die
Erfolglosigkeit ihrer Anstrengungen. Eine Span-
nung und Lustigkeit kam wieder über sie und
eine wild sich schüttelnde Schadenfreude über
das Mißgeschick der Aerzte und den Verderb des
Leibes. Wie sie unter Gelächter ihren Mund in das
Kissen drückte, hatte sie ihren alten Hohn und ihre
Kälte wieder.

Als am Mittag Soldaten mit klingender Marsch-
musik an dem Krankenhause vorüberzogen, saß die
Tänzerin jach in ihrem Bette auf, mit glühenden
Augen, gepreßten Lippen, ganz über sich gebückt.
Nach einer Weile rief eine scharfe, wenn auch leise
Stimme die Schwester an das Bett. Die Tänzerin
wollte sticken und begehrte Seide und Lelnewand.
Mit einem Bleistift warf sie rasch auf das weiße
Tuch ein sonderbares Bild. Drei Figuren standen
da: ein runder unförmiger Leib auf zwei Beinen,
ohne Arm und Kopf, nichts als eine zweibeinige,
dicke Kugel. Neben ihm ragte ein sanftmütiger
großer Mann mit einer Rieseqbriile, der den Leib
mit einem Thermometer streichelte. Aber wäh-
rend er sich ernst mit dem Leib beschäftigte,
machte ihtn auf der andern Seite ein kleines Mäd-
chen, das auf nackten Füßen hüpfte, eine lange
Nase mit der linken Hand und stieß mit der
rechten eine spitze Schere von unten in den Leib,
so daß der Leib wie eine Tonne auslief in dickem
Strahl.

Mit roten Fäden stickte die Tänzerin das Bild roh
aus und lachte lustig zwischen durch für sich.

Sie wollte wieder tanzen, tanzen.

Wie einstmals, als sie Kälte über jede Ueppigkeit
des Tanzens sprühte, als ihr straffer Leib wie eine
Flamme geweht hatte, wollte sie ihren Willcn wie-
der fühlen. Sie wollte einen Walzer, einen wun-
dersüßen, mit ihm tanzen, der ihr Herr geworden
war, mit dem Leib. Mit einer Bewegung ihres
Willens kor.nte sie ihn noch eimnal bei den Händen
fassen, den Leib, das träge Tier, ihn hinwerfen,
herumwerfen, und er war nicht mehr Herr über sie.
Ein triumphierender Haß wühlte sie von innen auf,

nicht er ging zur Rechten und sie zur Linken, soii*
dern sie, — sie sprangen mitsamt. Sie wollte iht
auf den Boden kollern, die Tonne das hinkende!
Männlein, Hals über Kopf es hintrudeln, ihm San(i
ins Maul stecken.

Sie rief mit einer Stimme, die urplötzlich heisel
geworden war, nach dem Doktor. Ueber sich ge-
beugt, sah sie ihm von unten ins Qesicht, wie ef
erstaunt die Stickerei betrachtete, sagte dann mii
ruhiger Stimme zu ihm auf: „Du, — Du Affe, —
Du Affe, Du Schlappschwanz.“ Und stieß sich, dif
Decke abwerfend, die Nähschere in die IinkeBrust:
Ein geller Schrei stand irgendwo in einer Ecke def
Saales. Noch im Tode hatte die Tänzerin den kaH
ten, verächtlichen Zug um den Mund, -

Der Amokläufer

Von Else Lasker-Schiiler

Tschandragupta ist siebenzig Jahre alt. Arfj
frühen Morgen wird ihn sein Sohn erschlagen. S<j
ist cs Sitte im Stamm. Und vor ihren Zelterl
schreien üi« Weiber und ihre Söhne klatschen mij
ihren Händen cirien wilden Freudentaumel. Del
neue Häuptling zerbcißt das Genick eines Elefan-;
tenkalbes, springt dreimal über seinen Stamm, delj
steht aufgerichtet, ein Haupi, da er trägt seine-4
Königs Dach. Und Tschandragupu, des erschlagefj
greisen Tschandraguptas Sohn, liebt MelechS
Tochter. Sie lockt ihn übers Meer. Und einerw
Qebettag des Jehovavolkes nimmt der junge Ha-JDt-
ling heimlich sein Weib, bringt es in sein heid
nisches Land. Und die Tochter des Melechs schenK
ihm einen Sohn, den nennt Tschandragupta*
Tschandragupta und nach seines Weibes Vatei
dem Melech. Und Tschandragupta, der Abtrünni'
gen Sohn, hat Sehnsucht nach den Juden. DK
Heidenmädchen lieben ihn, eine opfert ihm ihf
Federkleid. Er fliegt an allen Sternen vorbei zu de'
Juden. Und die Leute von Jericho glauben, eiif
Engel sitze vor dem Tor und bringen den SchH;
fender. auf ihren Händen in die Stadt. Qehen ij
das Haus des obersten Priesters und holen ihn nad
dem Hügel, worauf Jehovas Tempel steht. Denn si'
haben den heiligen Fremdling unter der Balsaih
staude auf weichem Moos gebettet, und die Tocht^
des obersten Priesters wäscht seine Füße mit d £
Quelle. Da spaltet der Wirid des Fremdlings Fedej
kleid, — er erwacht — und die Leute sehen, dü'
er kein Gottgesandter ist und sie höhnen ihn. Ab e
ein Deuter ängstigt die Enttäuschten: Der dort i 5
Schaitän. Der Qberpriester nimmt den verhöhnt^
Qast in sein Haus. Der sehnt sich nach den Judei'
beschenkt die Männcr auf den Plätzen und schlicl 1
tct ihren Streit und gewinnt so der Juden Heh
Und den Frauen hilft er die Rosen pflücken. N>j
Schlöme, seines gastlichen Hauses Tochter, g‘
wahrt er nie, und doch ist sie die früheste an d £
Hecken. Und Tschandragupta schnitzt Räuche f;
becken aus Elefantenzahn fiir den Altar Jehov^
Aber der oberste Priester verschmäht sie sanft. F
wirdTschandraguptas iraurig und mit ihm Schlöhfj
des obersten Priesters einziges Kind. Und sie b 1
tet ihren Vater, die fromme Qabe seines Qast £
nicht zu verachten; der ehrwürdige Knecht Jeh
vas aber wendet sein Angesicht. Da geht Tscha'
dragupta und fällt die Stämme der schwarz*
Rosen, Jehova einen Altar zu bauen, aber d;
oberste Priester wehrt ihm schmerzlich. Nun wef
des Häuptlings Tschandraguptas Sohn und heif
lich in ihren Schieiern Schiöme, des treuen Kne £
Jehovas einzige Tochter. Und sie schilt ihf £
Vater seines Hochmuts. In der Dämmerung bestij
sie den Hügel, auf dem der Tempel Qottes stejj
entfaltete ihr Angesicht und ließ ihre Haare spieK
wie Eva vor dem Schöpfer. Und weil des Objj
priesters Tochter den Sternenvorhang, der
heiligen Qerätschaften bewahrt, leuchten sah, b
gann sie lhrem Qotte zu schmeicheln, erinnerte i'
an den Schmerz der Liebe, da er noch Zebaö'
hieß und das 'blinde Weib im Paradies ihn iiintjj
ging und da Schlömes Stirne brannte, sahen ij
Augen nicht, daß die Sterne des Vorhangs sich V<J
finsterten und ihre Qebete wurden Liebkosungf.
und so versündigte sich des obersten Priesters ej
ziges Kind. Den Hügel herab stieg sie, stolpej
über ihres Hauses Gast, der saß unter der Balsaj
staude und sehnte sich nach den Juden. Qlie<?
waren aus seiner Qlieder Glieder gewachsen, ;j
sich sehnsüchtig verschlungen hielten, wie die vi*
armigen Qötzen seiner Heimat. Seitdem Tsch^
 
Annotationen