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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Laudon, R: Ein deutsches Dankgebet
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Hauer, Karl: Weltbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0085

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DER STUR/W

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / Amt VI 3444


Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertlons-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRQANG 1910 BERLIN/DONNERSTAG DEN 12.MAI 1910/WlEN NUMMER 11

JNHALT: R. LAUDON: Eln deutsches Dankgebet/
KaRL HAUER: Weltbild / PAUL LEPPIN: Daniel
Jesus / Roman / ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit
Ka'ypso über die Musik/LUDWIG RUBINER: Sollo-
gub/RUDOLF KURTZ: Offener Brief an Karl May /
PROGRESS:Fortschritt/ELSELASKER-SCHÜLER:
^'gerin, Affe und Kuckuck / MINIMAX: Berliner Sen-
«ationen/KARIKATUR: Rektor Schmidt

Gin deutsches Dankgebet

^on R. Laudon

Björnson, um den sich die Kunst französischer
^e-rzte vergeblich bemüht hatte, starb in Paris.

brachte die Leiche in die Heimat. Auf
^änischem Boden hoben Offiziere den Sarg des
rernden Dichters und Streiters zur Landungs-
brücke; ein norwegisches Panzerschiff trug ihn
^eiter zur Heimat. In Christiania schlossen die
^ehulen, auf den Häusern wehte Halbmast, der König
entblößte sein Haupt vor der Leiche. Ein tiefer
^ehmerz lag an dem Tage über der ganzen Stadt.
. Auch Deutschland hatte zu der Totenfeier seinen
Vertreter entsandt. Vor einiger Zeit hörte ich von
einer peinlichen Szene bei einer bürgerlichen Be-
erdigung: Die Angehörigen waren in der Leichen-
alle versammelt, der Prediger sagte seinen Spruch
er, da erhob sich ein junger Mensch aus der vor-
eersten Reihe, der sich für einen Moment nach
ninten umgewandt hatte, stieß totblaß seinen Stuhl
Urn> Packte einen älteren Herrn aus der Menge vorn
an den Rockknöpfen und drängte ihn wortlos gegen
‘ e Tur hin. Als der sich wehrte, schlug der junge
nensch ihm mehrmals schallend ins Qesicht, hob
nn mit beiden Armen auf, warf ihn vor der Türe
raußen an die Erde und blieb mit dem Rücken
gegen die Türe außerhalb der Halle so lange stehen,
ls der Qottesdienst vorbei war.

... Wem steigt nicht die Galie ins Blut und wer
atte nicht Lust zu tun wie dieser junge Mensch
ngesichts der Qegenwart eines deutschen Abge-
J^ndten bei der Beerdigung Björnsons? Wie immer
an auch Björnsons Dichtung berurteilen möge,
‘ e immer man seine politischen Einzelziele be-
Jw erten möge, so ist in ihm ein freiheitlich gesinnter
s ann, ein harter und rücksichtsloser Vertreter
, emer Anschauungen, ein leidenschaftlicher Vor-
ampfer für Menschheits- und Kultursachen dahin-
^egangen. Es gibt genug, die seine Art nicht

J^ännes

D

‘Sen, aber jeder dient Qott auf seine Weise.

Was aber hat bei der Beisetzung eines solchen
nes ein Vertreter Deutschlands zu suchen?
d as 'st ein scheinheiliges heuchlerisches Vorgehen,
as s‘ ch nicht entblödet, in einer ernsten schmerz-
s f ffenen Stunde die Fratze des Beileids zu
j nne‘ lJen, wo es am liebsten verächtlich heraus-
cnen möchte. Dies ist schlimmer bösartiger Spott
p grenzt an Gräberschändung. Ein Land, das in
rademärschen, Indianertänzen und Apotheosen
n der Originalität der Tapetenmuster den Höhe-

punkt seiner künstlerischen Kultur erblickt, hätte,
stark wie es doch ist, den Mut zu seiner Barbarei
haben müssen.

Aber man wundere sich nicht immer wieder,
wenn, so viele Orte es auch gibt und so vieie feine
Köpfe leben, nirgendwo und niemals vaterländisch
deutsche Werte entstehen wollen. Hier können
vorbildliche Museen, Institute, Kasernen wachsen,
die Industrie kann blühen, aber der schaffende Qeist
sucht vergeblich in diesem Lande Quellen für seinen
Durst. Raum für alle hat diese Erde nicht; bei uns
genießt nur das Glück offizieller Sonne, wer Patrio-
tismus in Verherrlichung der Dynastie, wer Fort-
schritt in Beschlüssen der Regierung, wer soziale
Vervollkommnung in der Entwicklung einer Militär-
kaste sieht. Von diesem Deutschland wendet sich
ab, was geistige, „zivile“ Schwungkraft und Selb-
ständigkeit hat; derselbe Widerwille ist in den freien
Köpfen gegen die offizielle „Nation“ wach, den das
einzelne Süddeutschland oft gegen das führende
Preußen äußert. Wir lasen alle die bitteren An-
klagen, die Qerhart Hauptmann, Deutschlands
größter Dramatiker, der bis in den Kern hinein sich
deutsch fühlt, gegen sein Land erhob, — er könnte
wie kein anderer und wie wenige anderer Nationen
eine strahlende Heimatsdichtung singen; ihm ist die
Kehle zugeschnürt. Hier bilden Offiziere und was
ihnen verbündet ist, eine höhnende Großmacht, die
offen über jegliches Konstitutionelle und Parla-
mentarische lacht, die mit Plan dem Lande den
Rücken kehrt und in der Dynastie ihren einzigen
Richtpunkt sieht. Wer möchte einem solchen sehr
starken und sehr rohen Staat seine Kraft zuwenden,
die ihm nie gedankt wird? Wer schüttelt noch den
Kopf über eine heimatlose und zerfahrene Dichtung
und Kunst ohne Tradition, ohne Vergangenheit und
Zukunft?

Wer glaubt, daß ein offizieller deutscher Ver-
treter an der Leiche eines fremden Freiheits-
kämpfers und Dichters etwas anderes betet, als
Dank, daß der Mann von hinnen gegangen ist, und
die Bitte, daß bald die Stunde kommen möge, an der
er dasselbe Dankgebet sprechen könne für alle die-
jenigen, welche dem Fremdling ähneln oder ihn ver-
ehren?

Weltbild

Von Karl Hauer

Zwei Triebe lenken die Bahnen und Schicksale
der Qestirne: ein vereinsamender, nach innen
ziehender, zentripetaler — und ein auflösender, ins
Weite schweifender, zentrifugaler. Vom Stern zum
Kosmos und vom Kosmos zum Stern flutet der
große und ewige Kreislauf der Kraft, die in Wahr-
heit niemals ruht. Sie sammelt sich um ein Zen-
trum, kreist um eine Sonne, verdichtet sich und
fließt im Moment der höchsten Spannung wieder
ins Meer der Allkraft über. Jede gebundene, zen-
tralisierte Kraft strebt nach Erlösung und Wieder-
vereinigung mit der Allkraft. In Bindung und
Lösung der Kräfte besteht das Spiel des Lebens.
Ohne die zentralisierenden Triebe, ohne das prin-

cipium individuationis wäre die Welt ein totes, un-
bewegliches Meer, „ruhende Kraft“, Nirwana.
Ohne die zentrifugalen, auflösenden Triebe wäre
die Welt eine Wüste erstarrter Sonnen und toter
Atome. In beiden Fälien wäre sie ein Qrab ihrer
selbst, ein erfülltes Nichts. Erst im Widerspiel
zweier Triebe, eines abgrenzenden, einschließenden
und eines verbindenden, überfließenden, eines
atomisierenden und eines kosmischen, eines
individuellen und eines genialen, erst im Wider-
spiel dieser Triebe gebiert sich das Leben. Stern
und All, Welt und Ich sind die Angeln dieses Spiels
— und all unser Denken und Tun ist dieses Spieles
unbewußter Mittler, in meinem Tun denkt die Erde,
im Denken der Erde wirkt das All . . .

Das Streben des Individuums ist es, „sich“ aus
dem Zusammenhange des Qanzen loszulösen und
der „Welt“ als abgeschlossenen Teil entgegen-
zustellen. Zwischen dem Individuum und der Welt
steht trennend und schützend die Haut. Welt und
Zelle sind durch die Zellwand geschieden.
Durch die Poren dieser Wand aber findet jenes
Ringen statt, das wir das Leben nennen. Die Po-
rosität ihrer Membran gestattet der Zelle, Kräfte
aus ihrer Umgebung an sich zu ziehen, sich zu
nähren. Die Festigkeit und Dehnbarkeit der
Membran ermöglicht es der Zelle, den Raub an der
Welt in sich festzuhalten, zu wachsen. In der Los-
lösung und Einhäutung, in Isolation und In-
krustation, betätigt sich der individualisierende
Trieb der Zelle. In der Einverleibung und Assimi-
lation der Außenwelt offenbart sich ihr geniales
Wesen, ihr Zusammenhang mit dem All; denn indem
sie die Welt sich einverleibt und wächst, — wächst
auch die Anziehungskraft der Welt und lockt sie, in
ihr sich aufzulösen. Wenn nämlich die Haut im
weitesten Sinne (als Summe aller zentripetalen
Kräfte) und die von ihr umschlossenen assimilieren-
den, mehr und mehr zentrifugal wirkenden Kräfte
das Maximum von Spannung und Druck erreicht
haben, dann ist die Lebensfähigkeit der Zelle als
solcher erschöpft — und das Ich ist von der Welt
überwunden. In der Kulmination seiner Entfaltung
verliert das Individuum seine ursprünglichen
Triebe. Der Trieb zur Isolierung weicht dem Trieb
der Auflösung und der Trieb der Assimilation poten-
ziert sich zum Trieb der teilenden Zeugung. Unter
dem Drucke der sprengenden, zentrifugalen Kräfte
gibt das Individuum sein Selbst preis und teilt sich
in zwei Zentren. Das Mutterindividuum hat sich
im Qenieakte der Zeugung verbraucht und ist —
unsterblich in seinem genialen Wesen — ohne
Hinterlassung eines Leichnams gestorben. Und in
zwei neuen Individuen ist die gelöste Kraft neuer-
dings gebunden . . . In der Auflösung der Mutter-
zelle wirkte ihre geniale Kraft, in der Abschnürung
der Zwillingszelle und Inkrustation der Tochter-
zellen wirkten wieder die isolierenden, um ein
Zentrum kreisenden Instinkte des Individuums.
Auf dieser Polarität der Triebe beruht die Er-
oberung der unorganischen Welt durch die organi-
sierte, die Einverleibung und Belebung des Toten
durch das Lebendige.

Sein zweites Wunder wirkt der geniale Trieb
der Auflösung und teilenden Zeugung in der Schöp-

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