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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 12 (Mai 1910)
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [8]: Ueber die Musik
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Fortschritt: Aus modernen Zeitschriften
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Das Temperament in der Isolierzelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0097

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^'ttiche Meßmöglichkeit; so wie die Tonleiter die
^ßmöglichkeit der Tonbeziehungen gewährt.

auf diesem Boden sich erhebt, was Rhythmik
jj eißt, erhält seine eigentlichen Werte eben so wenig
aus der Musik, wie die Tonbeziehungen sie daraus
^’annen. Der gegliederte Wechsel der Längen
j rd gewertet durch den Menschen nach der
v^benswirklichkeit, die ihm zuteil wurde; solche
j VVer'te der Rhythmik sind die Abwechslung, das
J: angweilige, das Bekannte, das Befremdende, das
' °nderbare, das Lockende, auch das Unheimliche,
Qewaltige, Schauerliche, das Qroßartige. Die
Wertfähigkeit der Rhythniik aliein ist schwer zu
Ijjdgrenzen, doch dürfte sie um vieles in unserer
jj'üsik geringer sein als die Wertfähigkeit der Ton-
,. eziehungen, mit welcher gemeinsam sie die wirk-
lche bestimmte Musik macht. —

l'ch

Da drängt sich wertend noch Neues in den zeit-
geordneten Ablauf; will Nebenkönig sein. Die
^•eit verläuft immer gleichmäßig als eine und die-
' e«be, nur ihr Inhalt wechselt. Aber Punkte brechen
g ervor, Zeitpunkte, beladen ihren Inhalt mit Wucht.
s ist der Anfang, das Ende, auch manche Zwi-
i^bengliederungspunkte, von denen ich rede.
r ährend Qleichmaß und Rhythmik den Binnen-
p Urn des Tönens ordnet, formen sich hier die
jl renzen. Nachdem sich das Tier in Knochen,
."skeln und Adern zusammengefunden hat, glättet
, lch sein Fell. Die Musik hebt an und steigt aus
Stillen und Lärmvollen auf, dazwischen das
achsein irrt und seufzt nach dem Wohlbekannten,
Un fliegt sie in der süßen Himmelsluft und atmet,
. Un stürtzt sie trunken und glücklich, klippentief
^ die tonlose Welt ab. Das Ende ist das Wichtigste
»° n allen; es entläßt in die Unwelt, es grenzt das
eben der Musik ab, deren Beginn noch kaltc
j lerzen fand, deren Umlauf sie immer inniger
esselte; Du begreifst, der Tod fordert sein Recht.
j. Cn rede von einer Wertung, deren Bedeutung nicht
j Uermäßig groß, nicht heranreicht an die jener
rijheren; äußerlicher Art, wenn auch nicht über-
^hbar. Und doch so bedeutend, daß die wichtigste
r e't die wichtigste Tonhöhe verlangt zu ihrem In-
a*b den Qrundton; der Königsmantel verlangt
, a. ch einem königlichen Träger. — Hier also durch-
r' cht etwas das Gleichmäßige des Qleichmaßes;
J e. r bleibt das Qleichmaß nicht alleiniges Maß der
p e,t; sogar in die Tonhöhe hinein erstreckt sich die
JeWalt dieser Qrenzmacht. —

.. Manche meinen, das Zeitliche wirke noch
lefer, wirke tief in die Tiefe des Tönens hin-
ntc- j}je j)inge Iärmen, sagen sie; es sei
J e Sleichmäßige Bewegung, die den Ton der
. usik schafft, bewegter den höheren, unbewegter
en tieferen, so daß in das zeitliche Gleichmaß das
esamte Wesen der Musik gesetzt wäre. Du weißt
j S besser, Kalypso. Du mühst Dich um diese
ebre nicht, weil Du das Rätsel des Tönens einfach
j lenst und noch einfacher das der Musik. Ein Ton
1 etwas Unerklärliches, Unableitbares. das ganz
LÜ cb ohne jedes Gleichnis ist; Qleichmaß und Ton-
jr°be mißt sich Ieicht von außen, sind sich innerlich
emd; der Ton ist zum Hören, nicht zum Sehen
Uer Ftihlen und Zählen. Naturwerk scheint dann
nsere Musik völlig, Rechenkunst. — Uns kiimmert
ber die Bindung der Töne an Anderes, ihre Ent-
^ ebung nicht. Zwar ist alles in der Musik ge-
Unden an Werkzeuge, aber die Musik zunächst
lc!,t Kunst der Werkzeuge. Es mag wohl locken
^cbzugehen, wie eng sich Töne und Dinge binden,
aber erst die Anerkennung und Wertung durch
<J n Menschen verleiht den Tönen Musikwert.
j. atzung und Bestimmung herrschen; wenn Du
d l" st: Menschenlaune. Sie sind die Baumeister
?J er ^ us!!<- So hat die Tonhöhe ihre eigene Herrin.
^ so die Tonlänge, und beiden hat der Mensch
Ule Herrschaft verliehen, der Tonleiter und dem
' ,leichmaß.

^VPso:

f, °hl. Die Tonhöhe, diese bestimmte einzelne
(j 0r,höhe, welche jene Naturfreunde meinen, be-
^ utet schließlich auch sehr wenig in der Musik.
w esentlich herrscht ja nicht die Tonhöhe in der
„ Us>k, die Höhe des einzelnen Tones; die Musik
[y Uht sich, gerade den fertigen Ton zu iiberwinden.

> eTöne folgen aufeinander; sie reihen sich in
H-!i,! ch ern Qleichmaß, ein Ton macht keine Musik.
wie erschossen stürzt er zu Boden. Musik

j.'-'nichc
J! a!tl0S wic

'tt hervor in der Beziehung der Nachbartöne, m
x, er Beziehung von Nachbarton zu Nachbarton, von
, achbartongruppe zu Nachbartongruppe; Wert
^, aben da die Tonbeziehungen. Was Musik an den
'önen ist, ist stumm; die Zwischenräüme der Töne

sind die Räume der Musik. So wird nur dle Be-
wegungsgröße, das Zueinander der Töne zum
Wert; Musik heißt das Spannungsverhältnis der
abfolgenden Töne; die Tonleiter gibt den Maßstab.
Musiker:

So eng also bindet sich Zeit und Ton, und ist doch
zweierlei. Fast möchte der Ton zu Zeit ver-
dunsten. Aber der Widerspruch vou Ton und
Zeitlichkeit bleibt in der Musik unüberwindlich.
Wir können den Namen unserer Herrin, der Welt,
nicht aussprechen, nicht nachsprechen.

Fortschritt!

Aus modernen Zeitschriften

Im „B 1 a u b u c h“ spricht Hermann Kinzl, der
Recensent der Sumurun-Pantomime (Deutsches
Theater) von „Yiktor H o 11 ä n d e r, dessen nar-
kotische Musik nicht minder den Motiven des
Orients nachging, als Frecksas Schattenriß des
Schauspiels; eine Musik, über deren erfinderische
und technische Werte der Fachmann zu urteilen
hat, die aber uns Laien zweifellos aus der primitiven
Melodramatik des Bauchtanzes hinauf führte bis
zur hellen Schwelgerei verzückter Liebesgeigen.“

Aus dem Zusammenhang wird auch der Skep-
tiker überzeugt, daß der Verfasser nicht etwa mit
einer teuflischen Ironie buhlt, sondern alles ganz
ernst meint. Vielleicht nimmt eine moderne Re-
daktion diesen schönen Passus als Stereotypie für
eilige Nachtkritiker auf, wobei nur das Wort
„Bauchtanz“ auszutauschen wäre. Zum Beispiel:
Tannhäuser „eine Musik, über deren er-
finderische etc. Werte usw. die aus der primitiven
Melodramatik des Pilgerchores hinauf fiihrte bis
zur hellen Schwelgerei verzückter Liebesgeigen.“

T r i s t a n „eine Musik.die aus der

primitiven Melodramatik des Schifferchores hinauf

.helle Schwelgerei verzückter Liebes-

geigen“

Parsifal . . . prim . . . Melodr . . . der
Bltimenmädchen hinauf . . . , verzückter Liebes-

Es stimmt großartig. Es stimmt bei Mascagni.
Leoncavallo, Verdi, Gounod, Thomas, Meyerbeer.
selbst bei Mozarts „Figaro“. Nur beim „Evan-
gelimann“ stimmt es nur bis zur primitiven Melo-
dramatik. Dieselbe Zeitschrift empfiehlt einen
Dichter (dessen jahrelange „ehrliche“ Bemiihungen
zu verspotten uns übrigens durchaus fern liegt) mit
den Bemerkungen:

„N. N. gehört zu denjenigen Dichtern, welche
auch von erwachsenen Männern gelesen werden
können.“ Die Redaktion veröffentlicht ein Qedicht
„Die Anschlagsäule, das mit den Worten beginnt:
„Eine Anschlagsäule im Sonnengliihn i

Mit Zetteln, rot und gelb und grün,

Die Augenwimpern werden betaut,

Wenn man nach der bunten Säule schaut.“

In diesem Qedicht und zwei anderen macht Redak-
tion die Bemerkung: „er . . . dichtet, weil ihtn ein

Qott gab. zu sagen. was er leidet.“

*

Die „S ii d d e u t s c h e n M o n a t s h e f t e“ sind
eine Zeitschrift, deren große Unbefangenheit iti allen
Fragen des künstlerischen Urteils (.Tosef Hofmiiller)
höchsten Lobes wert ist.

Diese Zeitschrift veröffentlicht mm schon seit
längerer Zeit garz unbegreiflicher Weise unter dem
Titel „Lebenslauf eines Ootimisten“ die schleimige
Autobiographie des bekannten lebfrischen Dichters-
mannes Ludwig Qamrhofer, dessen Werke uns bis
in sein hohes Altre hinein mit der tiefsinnigen Er-
kenntnis überraschen werden. daß es auf der Alm
koa Sünd’ sribt. manchmal aber dnch. — Schön. die
Veröffentlichung ist eine interne Angelegenheit der
Redaktion.

Nun erzählt Herr Qanghofer im Maiheft der „Siid-
deutschen Monatshefte“ von einem Epos. das er als
junger Mensch schreiben wollte. und darin geht es
ganz erschrec.klich zu. Alle sieben Todsiinden in-
klusive Sodomiterei und Vergewaltigung sollten
dran kommen. (Es wird schon gar nicht so schlimm
gewesen sein. SoIIte Herr Qanghofer übrigens mal
von einem gewissen Hamerling gehört haben?) Da
heißt es aber: „Diese Orgie, die ich zwischen den
Tänzerinnen und den betrunkenen Schwelgern hatte
spielen sehen, war so toll und wirr und gräßlich, daß
ich sie b e i d e m Q e d a n k e n , m e i n e M u 11 e r
sollte das einst lesen. nicht mehr
niederzuschreiben vermocht e.“

Bei diesern Satze lrätte die Redaktion die Ver-
öffentlichung endgültig inhibieren müssen! Ist es
noch nötig, zu erklären, warum? Herrn Qang-
hofers Mutter war, und das ist in vollem Ernst ge-
meint, sicher eine recht feingestimmte und innerlich
gebildete Frau, denn sie hat doch wenigstens nocb
einen deutschen Schriftsteller geboren.

Aber Herr Ganghofer schreibt nur für Mütter,
und nicht nur fiir Mütter, sondern auch für deren
Kinder, bis herab zum Säugling. Unterscheidet sich
das Niveau der Juhr-Weis Oanghofers auch nur in
irgend etwas von dem der Romane Hermann
Sudermanns? (den Hofmüller noch ebenso höhnisch
den „Sardon aus Matzicken“ genannt hat.)

Vielleicht haben einige aber immer noch nicht
verstanden, um was es sich handelt. Ich werde
also noch deutlicher werden.

Fiir den Dichter bedeutet jede Rücksichtnahme
auf das Publikum, zu dem auch die eigene Familie
zu zählen ist, unweigerlich Kitsch. Fiir den Dichter
gibt es auch nur eine Mutter, auf die er Riicksicht
nehmen darf, und das ist seine Idee.

Die dürfte allerdings Herrn Ganghofer nur eine
Stiefmutter sein.

P r og r e ß

Das Temperament
in der lsolierzelle

Frau Amtsgerichtsrat Burchardt hat ver-
geblich gegen den Entmiindigungsbeschluß des
Suhler Qerichtshofes angekämpft. Man kann des
Beileides einer ganzen Qesellschaft, des entrüsteten
Mitgefühls der gebildeten und emanzipierten
Frauenschaft sicher sein und doch eines Vormundes
bedürfen. Der Fall ist typisch. Man lasse sich
nicht durch die literarischen Bilder der verkannten
Frau irrefiihren; Frau Burchardt ist keine Madame
Bovary. Wie es scheint eine glänzende Begabung,
mit einer Masse von Halbtalenten, gänzlich ohne
Gleichgewicht, gänzlich auf Außenwirkungen ge-
stellt, mit dem Hang zu starken Emotionen, emp-
findlich und doch angriffslustig, Opfer jcder Erre-
gung: auf diesem Boden entwickeln sich dann abge-
grenzte anhaUende Verstimmungen, melancholi-
scher und manischer Natur, die all jencs bewir-
ken, was der Ehematm erzählt: D e p r e s s i o n e n
mit Selbstmordideen. später Umschwung.
Die Frau markiert die Theaterprinzessin, legt Puder
atif, nimmt starkes Parfüm, macht Liebha'ier-Auf-
führungen mit, — zu Haues geht alles drunter und
drtiber. Die Kinder miissen Qebetiibungen machen.
turnen: unmotivierte Festlichkeiten finden statt.
Schließlich die Erschöpfung. In der Klinik ereignete
sich das Oewöhnliche: man wird als Gesunder
unter total Verriickte gesteckt — kein Kranker, der
dies nicht behauptete —, man findet die „furcht-
barsten Zustände“. beginnt zu toben und mit dem
Arzt aus der Zelle zu poussieren, schreibt ihm nach
wenigen Wochen: „Du grenzenloses Ungeheucr.
du liebst mich doch. ich weiß es gewiß.“ Und:
..Wann kommt der Prinz. der den Bann löst. und
sei es auch mit einem Kuß. ich will ausnahmsweise
stillhalten. Tch habe heute Nacht kein Auge 7"-
getan. Ihre Amiemarie.“ Qebessert entlassen läßt
sie sich von einem Kurpfuscher zu Vorträgen
kapern. will dem Mann fiir 3000 Mark sein
..Svstem“ abkaufen. wird in Berlin die „mütterliche
Freundin“ eines Schausnielers. der sie kräftig an-
numpt. oueruliert inzwischen unentwegt weiter.
Tn einem kleinen Zimmer einer Berliner Miets-
kaserne ..tranert sie nach dem schönen ruhigen
Heim. aus dem man sie gerissen hat“.

Der Psvchiater kemit dje Bedeutung erblicher
Belastung bei dem Krankheifsbild. sieht auf die
eharakteristischen Stimmungsznstände. das roman-
haft exzentrische Temoerament. die Impulsivität.
den unangetasteten Intellekt. und weiß, daß es sich
um ein Bild aus der vielgestaltigen Qruppe der Ent-
artungspsvchopathieen handelt. Die Frau ist zeit-
weise sozial unzulänglich und bedarf dann den
Schutz des Vormundes.

Man lasse die beliebten Wendungen bei Seite,
daß man rein psychologisch dies und jenes völlig
bei ihr verstehen könne. Man kann ohne Erfah-
rung hier überhaupt nichts verstehen. Husten kann
zu einer banalen Erkältung gehören. aber auch
Zeichen der Schwindsucht sein. Und ferner weiß
ieder Psvchiater, wo der eigenartige und indivi-
duelle Charakter endet, und wo das sehr typische
 
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