Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0215
DOI Heft:
Nr. 27 (September 1910)
DOI Artikel:Dehmel, Richard: Nationale Kulturpolitik
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0215
Umfang acht Seiten
Einzelbezug:' 10 Pfennfg
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
JAHROANG 1910
BERLIN /DONNERSTAG DEN 1. SEPTEMBER 1910/WlEN
NUMMER 27
Die Dämonische
Samuel Pridolin
INHALT: RICHARD DEHMEL: Nationale Kultur-
politik / ALBERT EHRENSTEIN: Der Fluch des Magiers
Anateiresiotidas / WALTER HEYMANN: Teures Haupt /
PAUL SCHEERBART: Der Revolutionär / ELSE
LASKER - SCHÜLER : Elberfeld im dreihundertjährigen
Jubiläumsschmuck / PAUL ZECH: Sommerabend im
Park / HANS MAYER: Die Bildungsphilister / ADOLF
LOOS: Tristan in Wien / J. A.: Wolfgang Erich und
Wolfgang Amade / OSKAR KOKOSCHKA: Menschen-
köpfe IV: Paul Scheerbart / Zeichnung
Nationale Kulturpolitik
Ein Gutachten von Richapd Dehmel
Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl
niemand in Abrede stellen; die Geschichte der
Völker und Staaten zeigt, daß Kulturpolitik zu allen
Zeiten und in allen Ländern getrieben wurde. Man
braucht nur Namen wie Perikles und die Medici,
Augustus und Louis XIV, William Cedl und Fried-
rich den Großen zu nennen, und wir erinnern uns an
Epochen planvollster Zusammenfassung der pro-
duktiven Einzelkräfte um der organischen Volks-
bildung willen, auf kleineren wie größeren wie
ganz großen Staatsgebieten. Und nicht bloß per-
sönliche Oberhäupter, auch regierende Körper-
schaften haben sol'che Politik getrieben; Beweis die
Republik Venedig, die Niederlande, die Hansestädte.
Allerdings waren diese Körperschaften noch durch-
weg Aristokratien und beherrschten nur kleine
Volksgebilde; auch die sogenannten Demokratien
der altgriechischen Stadtgemeinden hätten tatsäch-
lich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zu-
schnitt. Es fehlt daher an historischen Analogien
zu den Herrschäftsformen der Gegenwart, die in
den großen Staaten Europas: aus alten aristokrati-
schen und neuen demokratischen Machtzuständen
unklar gemischt sind. Das aber ist ausschlag-
gebend für die Entscheidung der Frage, ob
sich heute die Kristallisation der nationalen
Kulturtendenzen erfolgreich beschleiunigen läßt
oder nicht. Denn erstens muß die Nation schon,
reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst
tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in
Grund und Boden verdorben; und zweitens ist
Politik nur erfolgreich durch eine starkeMachthaber-
schaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist frei-
lich die Unklarheit der Machtverhältnisse kein
Grund, daß eS nicht Zeit zur Kfärung sein könnte;
kein Mensch weiß im Voraus, wie reif ein Volk
ist. Also braucht man sich bloß noch den Kopf
zu zerbrechen, ob die verschiedenen mächtigen
Leute, die sich heute afe Volksvertreter fühlen,
hinlänglich einig darüber sind, woraufhin kultiviert
werden soll.
Kulturpolitik irgendwelcher Art wird ja allent-
halben genug getrieben, in Deutschland eher zu viel
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Einzelbezug:' 10 Pfennfg
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
JAHROANG 1910
BERLIN /DONNERSTAG DEN 1. SEPTEMBER 1910/WlEN
NUMMER 27
Die Dämonische
Samuel Pridolin
INHALT: RICHARD DEHMEL: Nationale Kultur-
politik / ALBERT EHRENSTEIN: Der Fluch des Magiers
Anateiresiotidas / WALTER HEYMANN: Teures Haupt /
PAUL SCHEERBART: Der Revolutionär / ELSE
LASKER - SCHÜLER : Elberfeld im dreihundertjährigen
Jubiläumsschmuck / PAUL ZECH: Sommerabend im
Park / HANS MAYER: Die Bildungsphilister / ADOLF
LOOS: Tristan in Wien / J. A.: Wolfgang Erich und
Wolfgang Amade / OSKAR KOKOSCHKA: Menschen-
köpfe IV: Paul Scheerbart / Zeichnung
Nationale Kulturpolitik
Ein Gutachten von Richapd Dehmel
Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl
niemand in Abrede stellen; die Geschichte der
Völker und Staaten zeigt, daß Kulturpolitik zu allen
Zeiten und in allen Ländern getrieben wurde. Man
braucht nur Namen wie Perikles und die Medici,
Augustus und Louis XIV, William Cedl und Fried-
rich den Großen zu nennen, und wir erinnern uns an
Epochen planvollster Zusammenfassung der pro-
duktiven Einzelkräfte um der organischen Volks-
bildung willen, auf kleineren wie größeren wie
ganz großen Staatsgebieten. Und nicht bloß per-
sönliche Oberhäupter, auch regierende Körper-
schaften haben sol'che Politik getrieben; Beweis die
Republik Venedig, die Niederlande, die Hansestädte.
Allerdings waren diese Körperschaften noch durch-
weg Aristokratien und beherrschten nur kleine
Volksgebilde; auch die sogenannten Demokratien
der altgriechischen Stadtgemeinden hätten tatsäch-
lich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zu-
schnitt. Es fehlt daher an historischen Analogien
zu den Herrschäftsformen der Gegenwart, die in
den großen Staaten Europas: aus alten aristokrati-
schen und neuen demokratischen Machtzuständen
unklar gemischt sind. Das aber ist ausschlag-
gebend für die Entscheidung der Frage, ob
sich heute die Kristallisation der nationalen
Kulturtendenzen erfolgreich beschleiunigen läßt
oder nicht. Denn erstens muß die Nation schon,
reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst
tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in
Grund und Boden verdorben; und zweitens ist
Politik nur erfolgreich durch eine starkeMachthaber-
schaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist frei-
lich die Unklarheit der Machtverhältnisse kein
Grund, daß eS nicht Zeit zur Kfärung sein könnte;
kein Mensch weiß im Voraus, wie reif ein Volk
ist. Also braucht man sich bloß noch den Kopf
zu zerbrechen, ob die verschiedenen mächtigen
Leute, die sich heute afe Volksvertreter fühlen,
hinlänglich einig darüber sind, woraufhin kultiviert
werden soll.
Kulturpolitik irgendwelcher Art wird ja allent-
halben genug getrieben, in Deutschland eher zu viel
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