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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 40 (Dezember 1910)
DOI article:
Stoessl, Otto: Shakespeares Problem im Hamlet
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0324

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schon bhhe dies Furchtbare skeptisch zur Verach-
tung einer Scheinwelt gestimmter, aber zugleich
durchaus heroisch angelegter, eine Urtiefe von
Wildheit bergender Charakter, des alten Hamlets
würdiger Sohn, sedne Aufgabe. Ein echtes, an na-
türlich reinen Instinkten reiches, inniges Gemüt
wird bei höchster Bildung, Ueberfeinerung und
Ueberernährung des Geistes durch diese Offen-
barung vergiftet. Wie gewisse Heilmittel wirkt ein
konzentriertes Erlebnis, eine vor die schonungs-
loseste Wirklichkeit gezerrte Skepsis als Todes-
krankheit selbst. Dem jungen Prinzen ist von wider-
wärtigen Hallunken nicht bloß der Vater ermordet,
sondern die Mutter geschändet, das Mütterliche bis
zur unerträglichen Schamlosigkeit entstellt, ver-
nichtet worden. Es ist die schönste tragische Folge-
richtigkeit gerade dieses Gefühls, daß das unwider-
bringlich zerstörte Empfinden einer edlen Männ-
lichkeit für das Weib, für die Mutter, auch die
Geliebte, die Liebe selbst grausam hinopfert. Diesen
gegen den eigenen erotischen Instinkt sich wenden-
den Prozeß der Leidenschaft, die sittliche Vernich-
tung Hamlets durch die entsetzliche Zwangsvor-
stellung der geschändeten Mutter habe ich (stärker
als Lublinski) als das Zentrum der Tragödie emp-
funden, von welchem die eigentümliche Lähmung
des heroischen Geistes ausgehen dürfte. Er steht
wie ein Stein im Wirbel von allen Seiten ihn um-
kreisender Fluten und wird gleichsam im Kreise
immer um sich selbst gedreht, wobei er scheinbar
untätig verharrt. Vielleicht genügt dieses Gleich-
nis, um die Absicht des Dichters klar zu machen,
die ausging, dramatisch zu zeigen, warum Hamlet
die auferlegte und nach der äußeren Lage durchaus
leicht auszuführende Tat hinzieht, sich an ihrem
Aufschub gleichsam weidet, und endlich von ihr,
wie von seinem Tod, übermannt wird. Der bru-
tale, in seinen Erkenntnissen und Entscheidungen
einfältige Tatmehsch schlüge kurzweg zu, wie es
Laertes, Hamlets Gegenspieler, tut. In Hamlet aber
lebt alles Menschenmögliche an Empfindung, Lei-
denschaft, AnsChauung, Erkenntnis, und ist durch
die Offenbarung als ein ganzes Chaos so auferweckt,
daß er nun hellseherisch nicht anders als ein trun-
kener Prophet durch sein Leben geht.

Es ist ein Zustand von Einsicht, der selbst
von jenem Wahnsinn nicht weit entfernt bleibt,
den die Höflinge an ihm vermuten. Wer jemals
den Felssturz zermalmender Erkenntnisse über die
eigene Seele sausen gespürt hat, wird Hamlets an
Wahnsinn rührende Erkenntnis ohne weiteres als
selbstverständlich begreifen. Es ist des Geistes an-
gestammte Art, auf reale Impulse vor allem geistig
zu reagieren und seine en’tscheidenden Erlebnisse
von außen nach innen zu verlegen. Sie werden
dabei seelisch inkorporiert ,bis zu einem gewissen
Grade rein innerlich abreagiert und, wenn es schließ-
lich auf eine Handlung ankommt, genügt eben der
bloße, konkrete Vollzug des logisch Notwendigen in
keiner Weise, der Geist verlangt eine umfassande
Beantwortung. Da.s Mögliche wird ihm fast immer
verächtlich, unzulänglich. Diese geistige Natur der
Erwiderung von Lebensforderungen eignet aller
genialen Konzeption, dem Feldherrn wie dem Dich-
ter, dem Denker wie dem Politiker, und bei einer
die normale Tragkraft nicht übersteigenden Er-
eignisbelastung wird die endliche Handlung auch
eine endgültige. Einen solchen Prozeß hat mit
dem obigen Vergleich (des Feldherrn) Lublinski
als Hamlets angeborene Artung geschildert. Ich
möchte schärfer die Losung: Tat als Kunstwerk,
Kunstwerk als Tat, für diesen Zustand überlegener
Geistigkeit formulieren. Diese Losung veranlaßt
bei einer normalen EreignTsbelastung ein planvoll
geniales Handeln, einen etwa langwierigen, aber
mit großartigem Abschluß gekrönten Prozeß. Eine
Weltuntat hat sich offenbart, das Einzel-
geschehen wird durch die leidenschaftlich groß-
artige Phantasie und nicht mit Unrecht so erwei-
tert. Bei Hamlets Erlebnis erzeugt diese WuCht
von Eindruck nun eine fieberhafte Uebertreibung,
eine Verzerrung seiner konzeptiven Absichten. Was
er innerlich auslebt, wird gigantisch gegen die nun
fast verachtete Aufgabe, einen kleinen Schurken
aus dem Weg zu räumen. Wie der Fiebernde
etwa durch immer neuen Trunk sein Fieber, so
mährt Hamlet den ungeheuerhchen Einsichtszustand
als Selbstzweck. Ihm gelten alle seine tatlosen
Scheinhandlungen, und nicht wie Lublinski möchte
äch in dem gelegentlichen brutalen Losschlagen —
auf Polonius, in Ophelias Grab — das bloße Ueber-

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wallen der natürlichen Leidenschaft, sondern gleiCh-
sam eine Instinktbewegung des Gesunden, nach
dem ehemaligen Gleichgewicht verlangenden
Hamlet erblicken, der, wenn auch planvoll, so doch
unfehlbar, wenn auch überlegt, so doch endgültig
zugeschlagen hätte. Die vollkommenste, hell-
seherische, geniale Vertiefung des vereinsamten
Geistes aber setzt sich in ein scheinbares Spiel um,
das uns freilich befremdet — der offenkundige
Mangel sinnfälliger Motivierung im Drama — aber
dem Helden unentbehrlich und wichtig ist. Ein
solcher seelisch umständlicher Prozeß, der Hamlet
in den Gehirnen der Kommentatoren beliebig als
Feigling, Phantasiegenie, Untersuchungsrichter,
Moralist, Dekadent, Willensschwächling erscheinen
läßt, ist eben wegen sejner Innerlichkeit nicht zum
rationalen dramatischen Ausdruck gebracht. Daß
dies nicht gelang, beruht auf dem vofherrsChenden
subjektiven, im Drama gewaltig überhöhten, aber
in Dämmerlicht verhüllten Problem des Dichters,
der durchgängige, selbstzufriedene Moralistik bei
herrschender Unmoral, schönrednerische Manieren
bei übelstem Tun, die Uebermacht des Kultur-
firnisses über die besten, über sich selbst, wie über

seinem Hamlet so dringlich, ebenfalls als eine Art
Felssturz von Einsicht spürte, daß er die Vision
einer Gewitter- und Treibhausatmosphäre im Wil-
lenszentrum nur als Chaos in der Stimmung fas-
zinierter Lähmung gestaltete. Durch den Untergang
aller wird es erlöst und entsühnt. Wenn ein starker
Rest von motivischer Foigerichtigkeit erübrigt, so
ist dies der gleiche Gehalt von heroischer Natur-
kraft, der den Hamlet davor schützt, der Sklave
Seiner Abstraktionen zu werden. Schon im ge-
heuchelten Wahnsinn Hamlets, der bei der Heim-
lichkeit des Frevels unnötig, widersinnig scheint,
erblickt Lublinski den ersten Bruch der Motivierung.
Nach unserer früheren Schilderung dieser hallu-
zinierenden Einsichtsnot des Prinzen, die gleichsam
wollüstig das höchste Kunstwerk der Sühne formt,
und mehr in der ewig gesteigerten Phantasie, als
in irgend einer Erfüllung sich befriedigt, möchte
man vielleicht gerade diese Maske, 'die zugleich'
Schein und wieder unwillkürliche Aeußerung eines
Zustandes ist (ein erleuchtetes „Außerslchsein“)
durchaus hinreichend motiviert finden. Es gilt ihm,
die Schuldigen aufs äußerste zu foltern, mit dem
Bewußtsejn ihrer Schmach, der Angst vor der Rache,
 
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