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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 55 (März 1911)
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Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis, [3]
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Lichtenstein, Alfred: Die Dämmerung
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Friedlaender, Salomo: Was bin Ich?
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Adler, Joseph: Neues vom Tage
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0445

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zeugung ist das Bewundernswerte. Jeder gute Lehrer
zieht sich in seinen Schülern seine eigenen Belehrer,
Förderer, Ueberwinder heran. Die werdende Grösse
solcher Männer bringt ihre vorhandene erst recht zum
Vorschein. Wir müssen mit ihnen und ihren Werken
verkehren, als ob sie lebten und immer noch im Ent-
stehen begriffen wären.

Um nichts also müssen wir uns bemühen als um
die Erkenntnis des Kerninteresses, des fruchtbaren
Keimpunktes lebendiger Werke. Das ist aber bei
Kant der Apriorismus: ihm galt seine kritische Sichtung,
seine letzte Entscheidung. Sein Leben lang strengte
er sich an, endlich einmal das echte, stichhaltende
Apriori zu formuliren und gelangte so schliesslich zu
einer Metaphysik vo]n unjehlbarer Sicherheit
innerhalb un üb erste igl ich er Schranken von
einiger symbolischer Durchsichtigkeit.

Sollte damit der Apriorismus sein letztes Wort gesprochen
haben? Bekanntlich scheidet das Apriori als Grenze
die Immanenz von der Transzendenz: aber sind Grenzen
nicht immer auch verbindend? Sollte man hier auf eine
innigere Vermitlung verzichten müssen? Schopenhauer
hat in der Tat den Ansatz gemacht, die Tauglichkeit des
Aprioris für die Immanenz erheblich zu verstärken;
die Transzendenz erschliesst er sich durch seinen
„Willen zum Leben“, die völlige Durchschauung der
Immanenz, der „Vorstellung“ nicht nur durch das
somnambule Hellsehen, sondern versucherisch auch
durch die Annahme, „dass schon in den allgemeinsten
Formen der Vorstellung, in diesem eigentlichen Grund-
gerüst der erscheinenden Welt, also in Raum und Zeit,
der Grundtypus, die Andeutung, Anlage alles dessen,
was die Formen füllt, aufzufinden und nachzuweisen
sei“. Inzwischen hinterlässt er die Realisation dieser
Bestrebung ausdrücklich einem genialen Kopf Dass
diese jedoch, wenn sie gelänge, nichts geringeres be-
deuten würde als die Verwirklichung der Kantischen
Idee eines intellectus archetypus, ist zweifellos. Ge-
rade diese Idee war es auch, die Goethe so „höchst
bedeutend“ fand, dass sie ihn Kant geneigter machte
als es wohl sonst geschehen wäre: „Hatte ich doch erst
unbewusst und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche,
Typische rastlos gedrungen“, bemerkt Goethe, ....
„so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern,
das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom
Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.“ „Zwar
scheint der Verfasser“, schickt er voran, „hier auf
einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir
ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und
•an das erste Wesen annähern sollen, so dürft es wohl
im Intellektuellen derselbe Fall sein, dass wir uns
durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur
zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig
machten“. Daher auch wollte ihm „manchma! dünken,
der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem
er bald das Erkenntnisvermögen aufs Engste einzu-
schränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die
er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinaus-
deutete“.

Mit einem Wort, dem Apriorismus fehlt immer
noch Hand und Fuss, Wurzel und Krone, Anfang und
Ende. Nietzsche, der so etwas wie ei« Arzt Schopen-
hauers ist, hat mit seiner glühenden Erfassung des
ringartig polarischen Wesens der Zeit dieses dringende
philosophische Bedürfnis sehr wohl empfunden und
befriedigen wollen. Leider war in ihm das Dionysische
zum Schaden des Apollinischen mächtig, so dass er
uns den klaren Erweis schuldig gebieben ist. So wie
bei ihm gewahren wir auch bei Goethe, ohne auf den
Grund zu kommen, eine Lösung des Rätsels der
Grenzenlosigkeit in dem Sinne, dass sie sich selbst
begrenze nach dem einen Weltgesetz der Kompensation,
-der sich selber indifferenzierenden Weltpolarität.

Darin besteht das wahre Vermächtnis Kants, dass
wir seinen Apriorismus um ein erstes und letztes er-
gänzen, dass wir das Bindeglied zwischen Kantischer
Resignation und Schopenhauerschem Allmachtsgelüst
entdecken. Wir sind weder allmächtig noch allwissend,
weder ohnmächtig noch unwissend. Wir sind Mittel-
wesen in jeglichem Betracht. Und wagen wir uns
an das Weltproblem, so sollen wir weder verzagen
noch tolldreist werden, sondern uns einen gewissen
lebendigen Indifferentismus aneignen, der sich
weder begrenzt fühlt noch Grenzen überschreitet, sondern
eben auf der Grenze seinen Weg der Vermittelung
geht. Wir besitzen weder nichts noch alles, wir er-
werben, erlernen etwas — und wer wollte hier tote

Schranken setzen; sie seien lebendig! Hoffen wir,
dass bald einmal prinzipiell dieses mittlere Verhalten als
das wahre erwiesen werdet

Verfasst 1900

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.

Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.

Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,

Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt

Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.

Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.

Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.

Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.

Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.

Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Alfred Lichtenstein

Was bin Ich?

Von Mynona

Was ich bin? Welche Fragel Ich bin ja der
grösste Antinumismatiker. Neulich sagte mir jemand:
„Exzeilenz! pstl“ Ich war nicht beleidigt. AIs er aber
hinzufügte: „Das geht auf Sie, das ist auf Sie ge-
münzt“ — da gab ich ihm eins aufs Trittbrett, dass
er sich noch heut um seine Achse dreht.

Uebrigens war ich nicht immer so. Das ware ne
selige Illussion, als ich es mit dem Antiphilatelismus
versuchte. Ich danke schön, da hätte man viel zu tun.
So liess ich sie denn ihre kleinen bunten Papierchen
weiter sammeln. Ein Paar Hefte so en passant, de
gaiete de coeur zu verbrennen — immer los! Da bin
ich nicht gegen. Aber schliesslich soll ne gesunde
Opposition doch mehr einbringen als Asche. Der Anti-
philatelimus ist nichts für konsequente Utilitarier. So
lasst sie man sammelnl

Dagegen die Numismatik — eine Erbfeindin, Anti-
podin aller menschlichen Verwertbarkeit: alles Unnützen
Quintessenz — ich laufe rot an, wenn ich nur an diese
Ludrians denke.

Wie? Geprägtes Metall, Gold, Geld — sammeln?
Hülfel Ich werde verrückt, ich muss mir die Weste
aufknöpfen. Es ist ja das krasseste desaveu, die
systematischste Negation des Geldes, des deutlichsten
Inbegriffs aller menschlichen Wertschätzungen. Ich
muss mir den Kragen abknöpfen und mich kalt über-
duschen. Warum nicht gleich Menschen sammeln?
Könige sammeln? (deren Profile ja der Numismatiker
nicht verschmäht!) Briefträger sammeln? Sammeln
sammeln sammeln — ich gerate ausser mir, ich kann
mich nicht erholen, ich komme uml Im Sammeln allein
Ijegt schon so viel Idiotie: aber Münzen sammeln ist die
Konzentration dieses lrrsinns. Was folgt? Seid ge-
warnt! Propaganda der Tat! Bartholomäushochzeit
für die gesamte Numismatik in ihren Hauptvertretern.
Es ist nicht „harmlos“, wenn man das Geld, statt
es auf Zins zu legen oder schlicht auszugeben —■
„sammelt“. Ich koche. Ich habe die Antisammelwut.
Ich möchte platzen.

An diesem Symptom eben verrät sich die enorme
Leb e nsgefährlichkeit der Aesthetisierung
des Nützlichen. Pfuil Geld soll nicht „schön“
— äh! — sein, sondern kulant, kurrent. Schönheit
ist überhaupt — aler ich schweige, ich habe Brech-
reiz, wenn allerhand Fritzen vom Gelde Schönheit
wollen — für Geld . . . ä Ia bonheur! Das Nütz-
liche soll gebraucht, verwendet werden; es soll so

hässlich sein, dass es jeden dieser Sammler geradezu
abschreckt und „Tod allen Sammlern“ soll darauf ein-
gerändelt stehen! Oder: „haut sie“! Oder: „Wer
mich sammelt, sei verdammelt“; oder so ähnlich

Mit einem Wort: es muss aufhörenl Wo ich noch
einen Numismatiker entdecke, werde ich ihn kon-
fiszieren und mir so nach und nach eine lachhafte
Sammlung dieser Sammler anlegen, bis sie der Teufel
holt. Am allergeeignetsten zur Vertilgung dieser Land-
plage wäre ein grosses numismatisches Irrenhaus. Mir
scheint nämlich, dass vom Prinzip der Numismatik aller
übrige Irrsinn derivirt ist. Geld, also kondensierte
Vernunft, kondensierte Menschheit, statt sie zu be-
tätigen, zu sammeln??? Mir steht der Schweiss auf
der Stirn, ich kann nicht mehr. Confessus sum.

Neues vom Tage

Widerspiel

Holzbock nennt ihn „Meister“. Bis 1914 ist er
ans Thalia-Theater verpfiichtet. Drei Jahre wird er
als Hauskomponist seine Tätigkeit entfalten. Dagegen
lassen sich selbst Titanenkämpfe nicht führen Auf
Berliner Boden wächst die Dürre der Gesangsposse
über die Blüthezeit der Wiener Neuoperette hinaus,
ehe noch das vielseitige Verlangen nach einem Lehar
mit künstlerischen Qualitäten ein groteskes Echo fand.
Man hat es in Berlin nicht mehr nötig, Musik aus
Wien zu beziehen, man kann das kunstliebende Pub-
likum an den Markt der einheimischen Ware gut ver-
kaufen. Und es jubelt noch dazu. Hören wir einen
Verständigen von der Morgenpost darüber.

Die lustige Gesangsposse „Polnische Wirt-
schaft“ wurde bei der gestrigen 200. Auffüh-
rung vom Publikum stürmisch bejubelt. Die
reizende Musik, vor allem die Schlager . . .
„Mann, hak mir mal die Taille zu“, mussten
mehrmals wiederholt werden Nach Schluss
der Vorstellung wollte der Beifall gar nicht
enden und der Vorhang musste mindestens
zwanzigmal in die Höhe gehen.

Diesem ernsten Referat war ein ulkiger Bericht
über die dritte Aussteilung der Neuen Sezession vor-
aufgedruckt. Er sollte nur fünf Zeilen länger sein als
das Referat. Aber es steckt Librettistenwitz in ihm.
Die Galerie Macht ist: der Kunstsalon „Zum
wilden Mann.“

Bei der zweihundertsten Aufführung einer erbärm-
lichen Gesangsposse gebärdet sich das Publikum ganz
wild, doch

„von den Werken einiger Mitglieder abge-
sehen, die am besten in zwei gesonderten
Räumen unter der Aufschrift Schreckens-
kammer und Lachkabinett untergebracht worden
wären, enthält die neue Sezession auch mehrere
recht gute Bilder.“

Hier sind es nur vereinzelte Talente, die etwas
wild einsetzen, dort jedoch schafft ein Meister, der
seine Erfolge dem „Geschmak“ der Presse und des
Theaterpublikums verdankt In einem Fall handelt es
sich nur um die Kunst, in dem andern aber ums
Theater. Jean, noch eine Gesangsposse I

Auch ein Bühnenerfolg Schnitzlers

Die Zeitungen berichten:

Der Dichter als Arzt. Bei der General-
robe im Wiener Burgtheater am Sonntag
onnte Artur Schnitzler in seiner bürgerlichen
Tätigkeit als Arzt fungieren. Wie unser
Wiener Korrespondent meldet, hatte sich der
Schauspieler Reimers während der Probe auf
der Bühne der Fuss verstaucht. Arthur
Schnitzler, der gerade im Zuschauerraum sass,
kam auf die Bühne und leistete dem Dar-
steller erste Hilfe.

Auf der Generalprobe! Und wo war der Theater-
arzt? Vielleicht beim Dichter?

Die beiden Walter

Schätze ich Shaw schon seit Jahren als einen
Journalisten, der nicht den Mut verliert, seine Feuille-
tons und Leitartikel „über Bretter“ hinwegschreiten zu
\assen, damit mir an einem Montag Turszinski die

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