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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Rubiner, Ludwig: Sollogub
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Kurtz, Rudolf: Offener Brief: an Karl May
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0089

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Leidenschaften schießen zu Weltanschauungen her-
aut vergessene Neigungen werden organisiert. Das
so telegraphisch schnell über riesenweite
'ächen hin, als ob in diesem Lande alle Leute
esen könnten, und das Unterrichten von hundert-
ureißig Miliionen Menschen nicht Privatsache
^äre!

Nur Dostojewski hatte diese Qefühlsform
^ußtands erfaßt, diese Zwieform des Nebenein-
auder von den Leben der Realität und der Phan-
fusie. ßej jhn, tauchte die russische Gefühlsform
U|uab unter die wilden und mächtigen Folterwerk-
* euge der Analyse, so daß auf dem Urgrunde aller
^uflösung jede Besonderheit eines rein nationalen
p ebens schwand, und nur das Allgemeingiiltige des
Psychischen blieb.

Aber niemand ist der Tradition Dostojewskis
«efolgt. Seit dem Tode Turgenjews haben die
Jussischen Dichter nie mehr jene sonderbare Me-
,°die internationaler Effekte vergessen können, die
m der Einigung von französischer Form und russi-
Schem Stimmungsinstinkt kadenzierte. Das be-
Ueutendste Organ der modernen russischen Litera-
Ur, die Monatsschrift „Wjessy“ könnte auch von
e,uem Kreise russophiier Pariser geschrieben sein.

Nun steht Sollogub in der Tradition Dosto-
)ey skis. Aber er ist, wie jeder große Erbe in den
('ünsten, ganz unabhängig vom Vorbilde. Dosto-
)eWski ist gar nicht das Vorbild, sondern Sollogub
üut plötzlich diese vergessene Form des russischeii
ühlens wieder gefunden und erkannt. Es ist alles
| auz anders bei Sollogub. Brachte furchtbarer
-uthusiasmus in der Entdeckung von unsichtbaren
i Cheiterhaufen des Psychischen Dostojewski zu
aeu „Dämonen“, so wird bei Sollogub die Ab-
^ eudelung des Qehirns zum „kleinen Dämon“. Bei
^ollogub steht alles in einer sehr kleinen Welt,
^pnimt von kleinen Motiven und geht zu Folgen,
ü' e an sich für die Welt wenig bedeuten.
r Aber hier taucht — wie immer ein ewiger
Ualismus — die ungeheure Dichtkraft Sollogubs
auf, und diese Dinge, die so wenig für die Welt be-
Ueuten, werden zu bedeutsamen Ereignissen der
erschreckten Hirnlichkeit, die Erlebnisse des Kör-
Uers werden zu Phantomen der Phantasie, das
Jsussische wird zum Abenteuer des Menschlichen.
J ieses Buch legt man am Scblusse der Lektüre
als gleichgiiltige Spukhaftigkeit weg. aber nach
^ochen steigt unerwartet der dröhnend schwin-
gende Wiederklang eines großen Dichtwerkes auf.

lodor Sollogub: Der klelne Dämon / Roman / Deutsch von Reinhold
on Walther / Verlag Georg Müller München

Offener Brief

an Karl May

Nieder-Schönhausen, im April 1910
$ ehr geehrter Herr!

Qestatten Sie mir, dessen Namen Sie zum
ersten Mal hören, diese Zeilen öffentlich an Sie zu
[jchten. Aber ich mag nicht schweigen, wenn eine
jvohorte grinsender Kulturträger ihre persönliche
^ e*nlichkeit dadurch zu dokumentieren sucht, daß
Sle ein mühevoll erjagtes Opfer mit seiner Ver-
^ungenheit stückweise abschlachtet. Ich mag aus
^einer Jugend die Helle nicht fortwünschen, die
ene'e Aufregung von großen und guten Menschen,
th ^ ie in sie hineingetragen haben. Der en-
nusiasmierte Bewunderer Old Shatterhands be-
uuscht sich heut in aller Oeffentlichkeit an den
r°Pischen Träumen Johannes V. Jensens, stiehlt
j' ch heimlich mathematische Ekstasen bei Conan
^oyle: aber den Rausch aus der Jugend vergißt
j r nicht. Mein Lehrer war jener gute Pro-
essor Freytag, Ihr begeisterter Lobredner, und
s er einst eine Karte, die er aus Ceylon
° n Ihnen erhalten hatte, für das beste Extemporale
ersPrach, habe ich mich mitten im Semester zu
j ir,er mehrstiindigen häuslichen Vorbereitung hin-
eißen lassen. Schließlich habe ich sie doch nicht
ekornmen — nur von weitem neidisch bewundert.
. . Und nun stellt man fest, daß Ihre Vergangen-
p ßlt eine dunkel bewegte war. Mit sittlichem
athos verkiindet man, daß Sie einige Jahre vom
eutschen Reich in wenig angenehmer Weise in
nspruch genommen worden sind. (Verzeihen Sie
en Hinweis, zu dem mich nur die Absicht des Fol-
enden zwingen konnte.) Und welche Kon-
Quenzen zieht man daraus? Qestatten Sie mir,

Ihn

en meine Bewunderung auszudrücken, daß so

viele schwere Jahre nicht die Kraft geraubt haben,
solche Bücher zu schreiben, daß literarischer
Frohndienst schmählichster Art Sie nicht zu dem
gemacht haben, was aus jedem Anderen — wenn
er es überstanden hätte — einen verbitterten, haß-
erfüllten, von Rachebedürfnis zerwühlten Menschen
gemacht hätte! Ich begreife die ungeheure Festig-
keit eines Individuums kaum, das nach schreck-
lichen Martern lichte, von keinem bitteren Wort
entstellte Bücher schreiben konnte. Und was be-
weist ein Qiftmord gegen eine gute Prosa, äußert
selbst die offizielle Paradoxie Oskar Wildes. Was
bedeutet überhaupt die Vergangenheit gegen die
Tatsache eines Schaffens, dessen Spannungen mich
zu einer Höhe des Entzückens getrieben haben, die
mich noch heute in der Erinnerung mit einem
warmen Schauer des Entzückens überschwärmt!

Und wenn Sie keins der von Ihnen be-
schriebenen Länder gesehen haben — was beweist
das? Baudelaire entlud die verschwiegensten
Tiefen seiner Kunst in Schilderungen tropischer
Reize und seine Kenntnisse der Wirklichkeit über-
traf die Erfahrung eines kurzen, fiebernd ver-
brachten Tag nicht. Und wenn alles nur eine durch
die Landkarte korrigierte Vision ist: so pfeifen Sie
auf die jammervolle Entrüstung bourgeoiser Ethik,
die Produkte phantastischen Schaffens mit dem
Reisepaß nachprüft. Ich habe die Sensations-
romane, die unter Ihrem Namen laufen, gelesen: und
wohl ist manches in den abertausend Seiten mit
Mitteln hervorgebracht, die der entrüstete Rezensent
sich nur in der raffinierteren Form sudermannischen
Schaffens gefallen läßt — aber ich will den Wirbel
nicht vergessen, in dem sie mich gerissen haben

und wenn er aus dem jämmerlichsten Fusel ent-
standen wäre. Ihre Reisebücher haben sorgfältig
alle jene trüben Elemente ausgeschieden, und wie
quittiert Mr. Knownothing? Mit schreiend er-
hobenen Händen und gurgelnden Kassandrarufen!

Es ist eine peinliche Gesellschaft, in deren Nähe
man sich begeben muß. Und die Atmosphäre in
Fäulnis übergegangenen Moralins, die sie umgiebt,
reizt empfindliche Nerven. Aber man muß objektiv
sein. Man muß untersuchen, was Ihre Bücher be-
deuten.

Ihre Romane enthalten, was jeder Mensch von
weniger differenzierten Bedürfnissen einfach als
Ergänzung seines farblosen Seins braucht: das
Fresko der Qestalten und Vorgänge. Jene un-
kritische Qröße der Leistung. die einen noch wenig
verfeinerten Instinkt aliein als Ideal erscheint Und
hier reiht sich die Religiosität ein, die Ihnen frei-
denkerscher Fanatismus — Qebete im Pantheisten-
gehrock und weißer Weste — angesichts jener
Vergangenheit mit tiefer Entrüstung ins Qesicht
speit. Der gleiche Fanatismus, der die Bekehrung
eines wüsten Antisemiten zum hemmungslosen
Demokraten jederzeit mit Jubelgeheul zu begrüßen
geneigt ist. Auch mir ist jene sentimentale Fröm-
migkeit wenig sympathisch: aber ich wage nicht,
Ihnen das Recht auf eine eigene Ansicht zu be-
streiten, wo ich mir das Recht zu einem Privatleben
von jedermann ausdrücklich ausgebeten haben will.
Und wie empfinden die Leser Ihre Religiosität?
Viele Tränen hat mich Winnetous Tod gekostet,
viele mitleidige Erinnerungen des armen Carpio
Schicksal. Aber diese meinetwegen katholische
Sentimentaütät wird gleich der übertriebenen

Geh. Reglerungsrat Rektor Prof. Dr. Erich Schmidt: „Goethes entziickende Meisterschaft . .

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