Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI issue:
Nr. 13 (Mai 1910)
DOI article:
Stoessl, Otto: Die Schwestern Wiesenthal
DOI article:
Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [9]: Ueber die Musik
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0104

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
langvergessenen und verhaltenen Kunst, die einem
Urinstinkt der Menschheit entsprungen, vielleicht
die erste Aeußerung des gestaltenden schöpferi-
schen Willens war und wie alle treibenden Ur-
instinkte in den geseilschaftlichen Mißformen ent-
stellt, ja verschüttet blieb, um zu Zeiten allmäh-
lich, unversehens und unbesiegbar aufzuwachen.
Zuweilen schlagen aus dem geordneten, langweili-
gen Treiben unserer Tage die alten, großen Flam-
men des Urmenschlichen auf, welches immer auch
das wahrhafte Urwunder bleibt, denn was wir Qe-
sellschaft nennen, ist doch bloß ein wunderliches
untermenschliches Gemenge beherrschter Tierheit.
Die Flammen brechen zuweilen auf: ein Bild, eine
Musik, ein Qedicht und der Flammen brennend-
ste: ein Tanz.

So empfängt Qrete Wiesenthal ihren Impuls,
so entatmet sie ihn, vom Klang erfaßt, in seinem
Rhythmus bewegt, von seinem Takt und Qang ge-
bunden und befreit: innerliches wie die Seeie eines
Tonstiickes erscheint gleichnishaft verkörpert im
sinnvolien Spiel ihrer Qlieder und dieses erweckt
wieder die Unzahl der Visionen bei der Einheit der
schönsten Erscheinung.

Am deutlichsten wird dieses Ineinandertauchen
der empfangenden und weiterreichenden Kräfte
an dem „Donauwalzer“. Langsam, fragend be-
ginnen die ersten Takte, da kniet sie in sich zu-
sammengekauert, das blonde, dunkelkupfrig auf-
leuchtende Haar verhüllt ihr Qesicht und strömt
über die Schultern. Mit dem bewegteren Fort-
gang des Motivs erhebt sie sich langsam, sche.int
lauschend erst ihrer inne zu werden, bis die ganze,
von einem anschließenden, stumpf grünen Gewande
verratene zarte Gestalt aufgerichtet, wie von der
Musik erst gezeugt, dasteht, schon aber auch zu
beben, zu atmen, zu schwingen beginnt; die Miene,
ein schmales, mageres, starres Kindergesicht, fängt
ieise zu leuchten an, die goldbraunen Augen schim-
mern und lächeln, lachen und strahien endlich, der
scharfgezeichnete Mund über dem langen Kinn
öffnet sich mit der schimmernden Reihe der Zähne,
eine siegreiche Heiterkeit leuchtet über dem Fluß
der fortziehenden Musik, allmählich hebt der Kör-
per sich empor und er hat fast mehr noch zu sagen,
als das Gesicht allein, er erlebt das Spiel der
Wellen und zeigt es, immer im Dreitakt des Wal-
zers: die naive Qeberde des Schwimmens, des
Trinkens, des Badens, alies Treibens eines beselig-
ten Qeschöpfes, einer Nixe im walienden Element,
aber jede Qeste nur eine von untrüglichem Stilge-
fühl gleichsam vergeistigte und verklärte Andeu-
tung des Realen; in der wachsenden Bewegung
steigert sich der jubelnde Taumel zu einer über-
strömenden Lust, zu einem Triumph körperlicher
Meiodik und eines herrlichen Augenwöhiklanges in
und über dem der Töne.

Else Wiesenthal, die stillere, sanftere lebt in
einer zärtlichen träumerischen Romantik; das
Bacchantische, völlig aufgelöste und brennend Ver-
zehrende, das der Leidenschaft der Schwester ge-
mäß ist, liegt ihr ferne, die weniger den tragischen
Qenius, als die selige Harmonie und Verklärung
der Musik verkörpert, schon durch ihre Erschei-
nung allein, von ebenmäßiger Schlankheit, von
einer knospenden Anmut; ihr Qesicht zeigt die
reinsten Linien, den sanftesten Umriß, der Mund
mit einem unvergleichlichen Sinnen und Lächeln
drückt den ganzen Zauber ihres Geschlechtes aus;
in dem Schwung dieser Lippen, der schweigenden,
der fragend halb geöffneten, der lachend erschios-
senen, scheint alies weibliche Schicksal vorge-
deutet, Lust und Leid, Sehnsucht, Liebe, Güte, alle
reinen, den wahren Wohlklang, die sittliche und
sinnliche Harmonie des Frauenwesens bezeichnen-
den Züge spricht dieser stumme Mund wie eine
Verheißung und Erfüllung aus. Und unter einer
schwarzen, schimmernden Haarflut leuchtet die
weiße Stirne, strahlen zwei ernste, feierliche,
milde Augen eine klare Tiefe aus. Auch sie tanzt,
was ihr gemäß ist, Musik, die von verwandtem
Wesen eingegeben, die zärtliche, innig träume-
rische Romantik vergegenwärtigt: Mondlicht über
Wiesen wallend, den schönen Harm der sehnen-
den, die Schwermut der verlorenen, die keusche
Freude der gewonnenen Liebe. Schumanns Karne-
val. Eben wegen der harmonischen Qefaßtheit
ihres ruhig geschlossenen Wesens, ihrer seelen-
volien Einfalt und Sicherheit vermag sie im Tanze,
was der flammenden Persönlichkeit der Schwester
versagt ist: deutliche, objektive Qestaltung und
Charakterisierung, sie hebt typische Figuren her-
aus, den stürmischen Florestan, den unglücklichen
100

Pierrot. Wie entzückend ist die Qrazie, die den
ungelenken, schwerfälligen, mondsüchtigen, un-
seligen Hanswurst aufs anmutigste ungraziös er-
scheinen läßt, die mit der charakteristischen Musik
taumelt, hinkt, nach Halt sucht, indessen, wie in
den Tönen der leise Spott des beherrschten harmo-
nischen Gleichgewichts in ihren Qliedern lächelt,
während darauf der triumphierende Harlekin in
seiner Freude die kindlichsten Sprünge, ein Lachen
am ganzen Leibe offenbart. „Valse noble“: in
einem schimmernden Seidenkleide mit bloßen
Schultern die schöne Frau, die sich im eigenen Zau-
ber, halb schamvoll, halb bewußt neigt und beugt
und badet, den Reiz ihrer verhaltenen, schweben-
den Bewegung genießt und sich im Wohllaut ihres
Leibes gleichsam bespiegelt.

Auch Else Wiesenthai tanzt einen Waizer:
„Rosen aus dem Süden“, in einem feuerfarbenen
Gewande, das wie ein üppiger Blütenkelch die
schlanke Qestalt umgibt, die daraus hervorleuchtet
und wieder sich darein hüllt, einen Kranz von
Rosen um das Haupt, die Lippen verheißend wie
Rosen selbst und die rings um sie blühende Musik
vom sanften Schwung des Beginnes bis zur höch-
sten Lust des Schlusses in das volle Glück der Er-
scheinung wandelnd: ein Bild, das sich selber ge-
staltet, ein Qeschöpf, das all seinen und unseren
Traum erfülit.

Nicht ohne ein zwingendes Qebot ihrer Natur
antworten diese Tänzerinnen am innigsten dem
Rufe der Wienerischen Musik, drücken sie selbst
doch den Reiz ihrer Heimat mit unwillkürlicher
Kraft aus, als hätte diese Natur, der Wienerwald,
welcher die allerschönste Stadt bekränzt, dieses
Land, das in unversieglichem Reichtum Wunder
der Erscheinungen hervorbringt, auch diese Mäd-
chen erschaffen, so recht um die innewohnende
Musik, den ganzen, steten Wohlklang seiner Schön-
heit im Tanze zu versinniichen und zu verkläffen.

Gespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin

Siebentes Gespräch: Giesst Wein in meinen
Becher/Von den unteren Tonordnungen

Abend. Violette und geibe Wolkenzüge am Himmel.
Das Meer Iiegt ganz glatt da.

M u s i k e r :

Unser Nachmittag war so still. Magst Du nun
wieder plaudern?

Kaly pso :

Ich hab Dich zwar einmal gebeten, mir, wenn ich
still bin, von ihr zu plaudern, von der Musik.
Qesteh’, auch Dich ekeit’s jetzt vor ihr. Es ist ein
Iangweiliges Ding um die Musik.

M u s i k e r :

Wenn Du mir erlaubst, Kalypso, so schau ich
heute den Möven dort zu. Ich denke mir eine zu
holen.

K a 1 y p s o :

Sie ist iangweilig. Käme jetzt einer, womit er
wollte, mit dem schönsten Liede Apollos, ich —
würfe ihn nieder.

M u s i k e r :

(Lachend.) So kriegerisch ketzerisch fiucht meine
hohe Gönnerin, die Schutzgöttin meiner armen
Seele, die Vorgängerin der heiligen Cäcilie. Doch
ist es nicht lange her, da kanntest Du Dir und mir
keinen Trost als die Musik.

Kalypso :

Ein Ieeres Qestammei ist sie. Ich rede nicht ohne
Not von ihr. Aber eine Bettierkunst ist sie. — Sieh,
hier iieg ich, nicht müde, aber ohne Glut und Lust,
stumpf, vöilig ausgeieert, blöden Herzens. Haucht
sie in meine Not, so häuft sie Elend klafterhoch über
mich, denn ich sehe sie, die ungeschickte Aerztin,
die die Leiden mehrt, wo sie iindern will und gieich
einer Qualle ist, schleimig und ohne Hände.

M u s i k e r :

Und, nicht wahr, Hände, Hände! — Reißt mich auf,
gebt mir etwas, ein Anderes, ein Schäumendes,
gießt meine Schale voll.

Kalypso:

Und darum, trotz Deines Spottes, veracht ich sie
als eine Bettelkunst. Stell mir einen blinden
Märchenerzähler her und flöte Du, ich wiil Dir
sagen, was Du flöten magst: ich lache Dir in’s Qe-
sicht und frage kalt: was schafft der Narr?

M u s i k e r :

Mir ginge das zu Herzen.

Kaly pso :

(Aufbrausend.) Laß das Höhnen! Ich werf’ Di<
in’s Meer vor die Fische. — Was nützt Du mi
was nützen mir alle Prächte und Wunder, wei
sie versagen, wo ich sie brauch’. Ich sitze hie
wie nie eine Göttliche, gefesselt; ja, sieh’ mich m
an. Die schlechteste, ärmste, schwächste d<
Himmlischen blieb an der Sonne und muß die Ba
barei des Qottes der Neuen anschauen. Wir hatte
den Krieg und die Frömmigkeit und jedes Glüc
er hat die Gewalt und die Heuchelei, und unte
lodern die Flammen um den Olympier. Ich quä
Menschen; ich will sie nicht sehen, die betrogene
seellosen von heute. — Ich bin unsterblich. Ic
hatte verstanden, was die Künste gabei
knirschend mußte ich es jetzt ganz lernen; m
mußten sie mehr werden, als sie einem sind. Un
mir haben — sie ihre Armut gezeigt.

M u s i k e r :

Ich schweige vor dem, was Du fühlst, Kalypsc
kaum sollte ich es wagen, Dich zu belehren. — Dai
ich sprechen? (Kalypso bleibt stumm.) Ich wi
Dich erinnern an Deine eigenen Worte. Ich wi
Dein Liebstes verteidigen. Daß unsere Kunst d«
Duft einer Blüte sei, — nichts als das, — daß sie de
Atem des Lebens sei, — nichts als das. Eine ge
hobene, fürstliche Kunst, die Tonkunst, dere
Eigenstes mit ist, daß sie schweigen kann übe
vieles, die sich des Kleinlichen, Peinlichen enthebe
darf. — Nun willst Du sie anders sehen; jetzt eni
behrst Du des Kleinlichen, nicht mehr Peinlichei
jetzt wiilst Du die Blüte und bläst den Duft fort un
mühst Dich um die toten, harten Dinge der Well
Kaiypso, der Uebel größtes ist die LangeweiK
(Kalypso liegt im Sande ausgestreckt mit ge
schiossenen Augen.) Wer schöpfte wie im zittern
den Rausch atemlos den Rahm von der Welt ab'
Wer raffte ungeduldig alles Giück, Stolz, Leid
Angst, Qual zusammen und genoß es in einen

Heben der Lider, ein achter Tag?-

Ka 1 y pso :

-Es schleicht um mich herum, das Gespenst

Es murmelt Totengebete, für mich, für mich. Di<
glasigen Augen, der verzerrte Mund. Es lupft dei
Fuß, es zuckt, es schreitet an; wirres Qeschrei
Bringt Totenopfer. Qegen meine Brust drängt dK
Schlange, entschlüpft mir, wo ich sie fassen möchte
windet sich um mich herum, legt sich voll und ekel
über meinen Mund. Laß mich los; ab. Laufen
keuchen, ans Meer, daß mein blauer Mantel sicl
bäumt. Fischlein, ich hab’ zwei kalte Lippen, icb
muß Deine Kiemen küssen.

M u s i k e r :

(Schüttelt an ihren Händen, schlingt die Arme urf
ihren Hals.) Kalypso! Soll ich Wassei
bringen? Was quält Dich? Du! (Kalypso richtei
sich murmelnd auf). Wir fahren heim.

Kaiypso :

(Wieder erwachend.) Hier ist’s gut. Heut wird
ein schöner Abend. — Was sprachen wir? — Ach-
das tönende Ungeheuer. — Welch scheußliches
Tier: Die Brust reckt sich weit über die Erde, dK
Nüstern schnüffeln in die Höhe und unten schlürfet 1
die dicken Füße, wälzt sich der grünschiliernde
Schweif, wulstig, schuppig, dick besät mit Würmeri 1
und Ungeziefer, durch die Straßen und den Mist.

M u s i k e r :

Entsetzlich! Welche Leiden siehst Du? Du bist
erregt. Dies ist nicht Musik, wovon Du sprichst-
— Du denkst Fehigeburten.

Kalypso :

(Still.) Vieles kann man nur mit Abscheu be-
trachten. Das hat der Walter über uns gerichtet,
dsmit wir nicht übermütig werden. Aber es gibt
Dinge, so beschämender Art. Das Wollen, das
kraftlose Wollen ergreift mich so. Ihr wißt ja nicht,
wie arm Ihr seid. Man sollte nur weinen und sicb
Eurer erbarmen. Und nichts ähnelt Euch so als
Eure Musik. Wenn Ihr wüßtet, wie sich die Himrn-
lischen den Leib halten und die Schenkel schlagen,
wenn Ihr das Schluchzen und Qeiächter hörefl
würdet, wo unten das Volk einem prahlenden Helä
zujubelt. Wie sie dem Olympier die Kniee küsseiF
„bravo, gut gemacht!“ Und das weite Haus dröhnt

vor Dank. _

M u s i k e r:

(Nach einer stummen Weile.) Die Himmlischei 1
steigen oft zu den Menschen herab, sei es um sich
zu verstecken, sei es um einiger Menschen willeü-
Himmlisch und beispiellos scheint manchen di e
 
Annotationen