Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0370
DOI issue:
Nr. 46 (Januar 1911)
DOI article:Bang, Herman: Honoré de Balzac
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haben; sie bewunderten ihn nicht allein, sie Iase« ihn
auch. Denn wenn man dreissig Jahre ist, liest man
viel, um sich zu trösten und zu vergessen oder um
sich zu erinnern und sich zu freuen.
Durch sein Glück ermuntert, ging der Dichter
weiter, und länger und länger dehnte er die Herrschaft
der Frau aus. Er schuf bald Frauen von vierzig
Jahren, Frauen, die die ganze prickelnde Schönheit
des Herbstes haben und an jene Tage im Oktober er-
innern, an denen die Luft klarer und die Farben
reicher sind, als mitten im Frühling, und die nur desto
bezaubernder sind, weil wir wissen, dass alle ihre
Schönheit von einem einzigen Regenschauer vernichtet
werden kann. Und Balzac eroberte nicht allein die
schönen Frauen fiir sich, nicht allein Madame
de Beauseant gab er ein Herz, auch den Miss-
gestalteten, den Verbitterten, den Unterdriickten sclienkte
er eine Geschichte. Er hatte in ihren Gedanken ge-
lesen, er verstand ihre Leiden, er begriff ihre geheimen
Kämpfe. „Wie ein sorgsamer Arzt“, sagte Sainte-
Beuve, „geht er bei den Frauen aus und ein, und er
kennt ihre Seele ebensogut wie ihren Körper. Er
weiss, wie sie sprechen, wie sie denken und wie sie
lieben. Alle diese ältlichen Frauen, die vergessen und
verkrüppelt in den Winkeln der Provinzen gesessen
haben, zieht er aus der Vergessenheit und dem Staub
hervor. Er erzählt von ihnen, er macht sie zu
Heldinnen. Und wenn sie zuweilen erröten, weil sie
so ans Licht gezogen werden, so vergessen sie es
bald und danken ihm, der wohl wusste, dass auch
frühe Runzeln und ergrautes Haar die Hülse um ein
Herz sein können.“
Und selbst jene, die über diese Heldinnen lächeln,
zwingt er, an sie zu glauben. Seine Beobachtung ist
allzu fein, allzu überwältigend und alizu klar. Er
imponiert mit seinen unendlichen Details, er überredet mit
seinem eindringlichemjWissen — er kennt und anatomisiert
den Körper, er erforscht und seziert die Seele. Wieviele
Bilder danken wir ihm nicht . . .
Vor alleiw Eugenie Grandet und ihre Mutter. Hier
ist nichts von Zolas fast planloser Häufung der Einzel-
heiten. Alles ist notwendig in dem Bilde, jedes Detail
wirft ein neues Licht über die Gestalten, fügt einen
neuen und schlagenden Zug zum Charakter. Eugenie
ist eine der schönsten Gestalten in der französischen
Literatur, jungfräulich, edel und rein. Rein wie eine
denkende Frau ist, die weiss, was sie opfert, wenn sie
unvermählt und ihrer Liebe treu bleibt und die eben
auf Grund dieses Bewusstseins, dass das Opfer gross
und die Resignation doppelt erhaben macht, wahr und
gross bleibt. Denn nur sie, die weiss, was sie opfert,
bringt in Wahrheit ein Opfer — und die Bewusstheit
ist auch bei der Frau mehr wert, als die Unbewusstheit.
Aber wenn Balzacs Frauen ihre Liebe opfern,
opfern sie alles: sie sind zu sehr Menschen, um das
nicht zu wissen. Und Coralie, die freudig stirbt, weil
der Tod sie davor bewahrt, ihre Liebe zu entweihen,
Fräulein d’Espregnon, die sich für ihre Familie opfert,
Lady Brandon, der die Mutterliebe den Tod so schwer
macht, die Gräfin Pirmiani, die ihren Geliebten zwingt,
ein Mann zu werden, Julie d’Aiglemont, die Frau von
dreissig Jahren — und viele, viele mehr. Wahrlich —
die Frauen schuldeten Balzac einen Altar; sie haben
ihn ihm in ihren Herzen errichtet.
Und dennoch — die Schilderungen der Frauen
haben vielleicht seinen Ruhm begründet, seine Zeichnung
des Mannes werden ihn bewahren. Wir, die wir
glauben, dass Beobachtung die notwendigste Eigenschaft
des Romanschriftstellers ist, werden Balzacs Frauen
immer bewundern, denn kein Mann hat sie besser
oder so gut gekannt wie er. Aber wir werden uns
dennoch sagen, dass der Mann, selbst ein Balzac, die
Frauen immer so zeichnen wird, wie er will, dass sie
sein sollen, weniger so, wie sie sind. Darum dürfte
mancher Leser George Sands Frauen und Balzacs
Männer vorziehen.
„Es gilt das Leben“, sagt Balzac, „das Leben und
mehr als das Leben, denn es gilt das Glück.“ Und
damit stürzt diese Schar in wirbelndem Strom vorwärts,
unaufhaltsam auf der Jagd nach dem Glück, in hitzigem
Kampfe, wie Infusorien in einem Wassertropfen, wie
Weizenkeime im Boden, die um Sonne und Licht
kämpfen.
„Aber es gibt“, fügt der Dichter hinzu, „nur einen
Weg, sein Glück zu machen: man erreicht alles durch
die Frau. Und nur durch sie.“ Darum wird bei
Balzac auch die Frau in den Kampf hineingezogen;
trotzdem steht sie ausserhalb des Gefechts. Und ich
möchte es wiederholen: jener unbeschreibliche Schimmer
von Wahrheit, den der Existenzkampf auf Balzacs Ge-
stalten wirft, ist ihr grösster Vorzug. Dieser Schein
ruht am stärksten auf den Männern, und deshalb ziehe
ich sie vor. Ausserdem sind die Männertypen noch
mannigfaltiger, die Nuancen feiner, die Details noch
reicher.
Aber wählen wir ein einzelnes Beispiel, denn nur
durch den Hinweis auf ein einzelnes Bild kann man
einen schwachen Begriff von Balzac und seiner Methode
geben — ein kurzer Hinweis, der fast nur ein Resume
werden muss: aber Resume und freie Phantasie sind
Scylla und Charydis der Kritik. Jedoch— eine einzeine
Gestalt aus dieser Galerie zu wählen ist nicht leicht.
Ihr Reichtum ist zu mannigfaltig und gross. Wir be-
gegnen Blond, Brideau, Nathan, jener ganzer Schar
Pariser Journalisten mit käuflichen Federn und gut
verstecktem Gewissen -- einer Gesellschaft mitten in
der Gesellschaft, einer klebrigen Gesellschaft, die Balzac
mit Vorliebe behandelt, wahrscheinlich weil sie alles
widerspiegelt: Elend und Luxus, Aufopferung und
Verbrechen, und weil der beständige Kampf hier zum
Handgemenge wird, zum Faustkampf, beinahe zur
Schlägerei: Wir treffen Gobseck, Grandet, 1 Claes,
Wucherer, Alchimisten und Geizhälse, Leute, für die
das Gold Zweck und nicht Mittel geworden ist, und
die sterbend nach dem Kruzifix tasten, das ihnen mit
dem Glanze des Silbers entgegenleuchtet. Wir sehen
de Marsav, Rastignac, de Trailes, Modeherren, die
jeden Tag ailes wagen, um ihr Ziel: Leben und Glück
zu erreichen. Wir lernen Cesar Birotteau kennen,
Chesnel, David Sechard, Ehrenmänner mitten im
Elend. Diese unendliche Schar von Gestalten zieht
an unserem Blick vorbei, und wenn wir unter all
diesen Typen Lucien Rubenpre herausgreifen, so
geschieht es beinahe aufs Geratewohl. Unter einer
solchen Menge kann man nicht wählen, man greift
halb ins Dunkle. Lucien ist der Sohn eines Apothekers
und einer adligen Dame. Er erbte von seiner Mutter
eine verhängnisvolle Schönheit und eine Begabung,
die ihm zu ihrem Abgott macht. Er wird von allen
blind vergöttert. Sein Taient gewinnt ihm die Männer,
seine Schönheit die Frauen. Unter diesen Madame
Bargeton, die sich in den Sohn des Apothekers ver-
liebt und ihn zu sich einladet. Wir verfolgen nun Tag
für Tag seine Liebe, sehen ihn langsam aus Louisens
Sklave ihr Herr werden, sehen ihn alimählich seine
Familie verleugnen und ihr langsam alles rauben Aber
dieser Egoismus erwacht ganz allmähiich. Schleichend
bemächtigt er sich seines ganzen Wesens, bis die Zer-
störung vollendet ist und Lucien reif, seiner Geliebten
nach Paris zu folgen. Balzac führt seine Umwandlung
nicht durch jähe Uebergänge herbei, er manövriert be-
ständig mit Kleinigkeiten, mit Belanglosigkeiten, mit
jenen „riens“, aus denen das Unendliche zusammenge-
setzt ist. Lucien kommt nach Paris, er schlendert aHf
den Boulevards herum, und nach und nach kommt er
dahin, sich seiner Kleidung zu schämen, seiner Wäsche,
die seine Schwester in einer schlaflosen Nacht ge-
plättet hat, seiner Stiefel, die keine Stulpen haben. Er
geht zu einem Schneider und wird „neu“ — aber die
neuen Kleider sind zu neu, und man lächelt in Ma-
dame d’Espards Loge über ihn. Er hatte auf diese
Kleider gehofft, er wollte in diesen Kleidern triumphieren,
seine Schönheit ins Licht setzen und man lächelt.
Ausgelacht und verhöhnt ballt er die Hände gegen die
Gesellschaft. Aus tausend Dingen, ist sein Hass er-
wachsen, die man Lächerlichkeiten nennen könnte, wenn
man sich nicht selbst sagt, dass gerade solche kleinen
Dinge die grossen Faktoren im Roman des Lebens
werden.
Nun wird Lucien in das Gewühl des Pariser Lebens
gezogen. Ich kann ihm nicht durch diesen Kampf
folgen, der seinen Egoismus verdoppelt und seine Zer-
störung vollendet. Aber überall finden wir in der Schilde-
rung dieselbe Klarheit, und alles trägt das Gepräge der
unerbittlichen Notwendigkeit der Wirklichkeit.
Zuletzt diese ergreifende Szene an Coralies Toten-
bett. Lucien hat kein Geld, alles ist verpfändet und
verkauft. Und da neben ihm, auf dem Bett liegt die
Frau, die er so sehr geliebt hat, als er lieben kann,
und die ihm alles geopfert hat und jetzt für ihn stirbt.
Wie soll sie unter die Erde kommen, wie soll er sie
begraben lassen? Während ihr brechendes Auge ihn
sucht, sitzt er am Bett und schreibt — ein Buch-
händler hat bei ihm ein paar obszöne Lieder bestellt.
An ihnen arbeitet er. Und von Zeit zu Zeit muss er
die Melodie summen, um zu prüfen ob die Worte
passen. — Bis dahin ist alles vollendet oder beinahe alles.
Von hier an gleitet Lucien in das Abenteuer, in die
Phantasie, beinahe in Phantasterei — wie alle Haupt-
personen Balzacs. Dieser grosse Beobachter wird gegen
Ende seiner Bücher immer zum Phantasten. Die Phan-
tasie, die er solange gezügelt hat, geht mit ihm durch.
und er wird selbst mitgerissen und geht in dem wir-
belnden Strudel unter, den er aufgepeitscht hat. Was in
seinem Leben Geisteskrankheit war, wird in seinen
Büchern zügellose Ekstase. Er übertreibt die wahren
Züge, er schafft für das Alltägliche gigantische Formen.
Nachdem er ganz real gewesen war, wird er schliess-
Iich ganz unwahrscheinlich. Und von einem Roman,
der uns durch seine Wahrheit verblüfft, gleitet er
hinüber uns ein Abenteuer zu erzählen, das fast an
E. Th. A. Hoffmann erinnert.
Aber Vautrin ist noch unwahrscheinlicher ate
Lucien.
Vautrin, der äusgebrochene Galeerensklave, der
gemeine Verbrecher, der „Napoleon der Galeeren.“
Balzac ‘hat eine Schwäche für solche Gestalte«
Sie sind Ausgeburten seiner Phantasie und nehmen aU
das Phantastische in ihm gefangen. Seine unerschöpf-
liche Erfindungsgabe macht diese Verbrecher zu Helden
in Hunderten von Kämpfen, er lässt sie siegen, trium-
phieren und zerstören; er verliebt sich in ihre grenzen-
lose Verworfenheit, er lässt sie zu Titanen wachsen
und macht sie beinahe zu Göttern — er macht die
Schlechtigkeit bezaubernd, indem er sie unmenschlich
gross macht. Jener Baron Hulot, den Taine für eine
der grössten Gestalten des Dichters hielt, hat gewiss
viel zu dem Ruf der Immoralität Balzacs beigetragen.
Er bewundert die Stärke, wo er sie findet und ver-
herrlicht die Kraft, auch wenn sie im Dienste des
Verbrechens steht.
Seine Verbrecher imponieren wie Michelangelos
Statuen.
Der Vorwurf des Unmoralischen lässt sich am
'eichtesten gegen einen Schriftsteller erheben, sagt
Madame Surville. Sie hat Recht. Aber wenn ma«
ihn zu einem gewissen Zeitpunkt mit seltener Einstim-
migkeit gegen ihren Bruder richtete, so war dies recht
natürlich, und die Schuld lag nicht allein an seinea
Feinden, die ihm missverstehen woliten, sondern auch
an ihm, der missverstanden werden konnte. In dem
rasenden Kampf, der in seinen Büchern tobt, siegt
stets die Stärke. Wenn auch Balzac in seinen Vor-
reden Christ ist, in seinen Romanen bleibt er ein
Schüler Voltaires. Die Religion ist für Balzac nur
eine Notwendigkeit, die Völker zu zügeln, wie der Ab-
solutismus. Die Polizisten zähmen die Körper, das
Christentum die Geister, und was Balzac Sympathie
für diese beiden Mächte einflösst, ist ihre Stärke und
nur sie. Er hat im Grunde ganz dieselbe Sympathie
für den Verbrecher Vautnn — sie siegen, beide kraft
ihrer Stärke.
Balzacs Bücher erinnern an einen verwirrten brau-
senden Hexentanz, und sein Stil passt genau zum In-
halt Man kann schwer etwas Ungeordneteres finden,
als ein Buch von Balzac. So wie seine Personen-
galerie bald ein Wachsfigurenkabinett ist und bald ein
mächtiges Museum, erinnert seine Sprache und sein
Satzbau an ein reiches Warenhaus. Nur Zola hat
noch mehr unübersetzbare Worte als er, nur Zola
kann die Sätze so auftürmen. Aber bei dem Begrün-
der des Naturalismus ist der Stil gleichartig, die Methode,
die Art zu sprechen, stets dieselbe. Balzac ist immer
neu. So wie er Worte aus allen Wissenschaften
durcheinandermischt, ahmt er kühn den Stil aller Peri-
oden nach, und der originellste Schriftsteller, der viel-
leicht je gelebt hat, ist infolge dieser gewollten Nach-
ahmung der Unoriginalität bezichtigt worden.
Selbst die letzten Werke legen Zeugnis von der
Arbeit ab, die es ihm gekostet hat, seinen Platz als
grössten Dichter Frankreichs zu behaupten, den ihn
Taine im selben Atem mit Shakespeare nennt
Wenn man ihn gerade ganz sicher glaubt und eine
Feinheit in der Beobachtung, eine anmutige Periode
der Sprache bewundert, wird man von einer starken
Uebertreibung und einem holprigen Satzbau wieder ab-
gestossen. Balzac war nie einheitlich. Und wenn
nicht ein Engel und ein Teufel in ihm wohnte, so
waren doch zum mindesten zehn Menschen in ihm.
Man sagt, dass es das Schicksal der grössten und
wahren Dichter ist, erst nach ihrem Tode anerkannt zu
werden.
Man sollte vielleicht eher sagen, dass man einen
Dichter nach dem Einfluss werten kann, den er nach
seinem Tode erlangt. Shakespeare hat für Jahrhunderte
geschrieben. Balzac, der in einer Zeit lebte, wo alles
so unendlich rasch wechselte, hat auf jeden Fall für
viele Generationen geschrieben. Der Einfluss, den er
auf die Literatur seines Landes und dadurch auf die
der ganzen Welt ausübte, ist unberechenbar.
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auch. Denn wenn man dreissig Jahre ist, liest man
viel, um sich zu trösten und zu vergessen oder um
sich zu erinnern und sich zu freuen.
Durch sein Glück ermuntert, ging der Dichter
weiter, und länger und länger dehnte er die Herrschaft
der Frau aus. Er schuf bald Frauen von vierzig
Jahren, Frauen, die die ganze prickelnde Schönheit
des Herbstes haben und an jene Tage im Oktober er-
innern, an denen die Luft klarer und die Farben
reicher sind, als mitten im Frühling, und die nur desto
bezaubernder sind, weil wir wissen, dass alle ihre
Schönheit von einem einzigen Regenschauer vernichtet
werden kann. Und Balzac eroberte nicht allein die
schönen Frauen fiir sich, nicht allein Madame
de Beauseant gab er ein Herz, auch den Miss-
gestalteten, den Verbitterten, den Unterdriickten sclienkte
er eine Geschichte. Er hatte in ihren Gedanken ge-
lesen, er verstand ihre Leiden, er begriff ihre geheimen
Kämpfe. „Wie ein sorgsamer Arzt“, sagte Sainte-
Beuve, „geht er bei den Frauen aus und ein, und er
kennt ihre Seele ebensogut wie ihren Körper. Er
weiss, wie sie sprechen, wie sie denken und wie sie
lieben. Alle diese ältlichen Frauen, die vergessen und
verkrüppelt in den Winkeln der Provinzen gesessen
haben, zieht er aus der Vergessenheit und dem Staub
hervor. Er erzählt von ihnen, er macht sie zu
Heldinnen. Und wenn sie zuweilen erröten, weil sie
so ans Licht gezogen werden, so vergessen sie es
bald und danken ihm, der wohl wusste, dass auch
frühe Runzeln und ergrautes Haar die Hülse um ein
Herz sein können.“
Und selbst jene, die über diese Heldinnen lächeln,
zwingt er, an sie zu glauben. Seine Beobachtung ist
allzu fein, allzu überwältigend und alizu klar. Er
imponiert mit seinen unendlichen Details, er überredet mit
seinem eindringlichemjWissen — er kennt und anatomisiert
den Körper, er erforscht und seziert die Seele. Wieviele
Bilder danken wir ihm nicht . . .
Vor alleiw Eugenie Grandet und ihre Mutter. Hier
ist nichts von Zolas fast planloser Häufung der Einzel-
heiten. Alles ist notwendig in dem Bilde, jedes Detail
wirft ein neues Licht über die Gestalten, fügt einen
neuen und schlagenden Zug zum Charakter. Eugenie
ist eine der schönsten Gestalten in der französischen
Literatur, jungfräulich, edel und rein. Rein wie eine
denkende Frau ist, die weiss, was sie opfert, wenn sie
unvermählt und ihrer Liebe treu bleibt und die eben
auf Grund dieses Bewusstseins, dass das Opfer gross
und die Resignation doppelt erhaben macht, wahr und
gross bleibt. Denn nur sie, die weiss, was sie opfert,
bringt in Wahrheit ein Opfer — und die Bewusstheit
ist auch bei der Frau mehr wert, als die Unbewusstheit.
Aber wenn Balzacs Frauen ihre Liebe opfern,
opfern sie alles: sie sind zu sehr Menschen, um das
nicht zu wissen. Und Coralie, die freudig stirbt, weil
der Tod sie davor bewahrt, ihre Liebe zu entweihen,
Fräulein d’Espregnon, die sich für ihre Familie opfert,
Lady Brandon, der die Mutterliebe den Tod so schwer
macht, die Gräfin Pirmiani, die ihren Geliebten zwingt,
ein Mann zu werden, Julie d’Aiglemont, die Frau von
dreissig Jahren — und viele, viele mehr. Wahrlich —
die Frauen schuldeten Balzac einen Altar; sie haben
ihn ihm in ihren Herzen errichtet.
Und dennoch — die Schilderungen der Frauen
haben vielleicht seinen Ruhm begründet, seine Zeichnung
des Mannes werden ihn bewahren. Wir, die wir
glauben, dass Beobachtung die notwendigste Eigenschaft
des Romanschriftstellers ist, werden Balzacs Frauen
immer bewundern, denn kein Mann hat sie besser
oder so gut gekannt wie er. Aber wir werden uns
dennoch sagen, dass der Mann, selbst ein Balzac, die
Frauen immer so zeichnen wird, wie er will, dass sie
sein sollen, weniger so, wie sie sind. Darum dürfte
mancher Leser George Sands Frauen und Balzacs
Männer vorziehen.
„Es gilt das Leben“, sagt Balzac, „das Leben und
mehr als das Leben, denn es gilt das Glück.“ Und
damit stürzt diese Schar in wirbelndem Strom vorwärts,
unaufhaltsam auf der Jagd nach dem Glück, in hitzigem
Kampfe, wie Infusorien in einem Wassertropfen, wie
Weizenkeime im Boden, die um Sonne und Licht
kämpfen.
„Aber es gibt“, fügt der Dichter hinzu, „nur einen
Weg, sein Glück zu machen: man erreicht alles durch
die Frau. Und nur durch sie.“ Darum wird bei
Balzac auch die Frau in den Kampf hineingezogen;
trotzdem steht sie ausserhalb des Gefechts. Und ich
möchte es wiederholen: jener unbeschreibliche Schimmer
von Wahrheit, den der Existenzkampf auf Balzacs Ge-
stalten wirft, ist ihr grösster Vorzug. Dieser Schein
ruht am stärksten auf den Männern, und deshalb ziehe
ich sie vor. Ausserdem sind die Männertypen noch
mannigfaltiger, die Nuancen feiner, die Details noch
reicher.
Aber wählen wir ein einzelnes Beispiel, denn nur
durch den Hinweis auf ein einzelnes Bild kann man
einen schwachen Begriff von Balzac und seiner Methode
geben — ein kurzer Hinweis, der fast nur ein Resume
werden muss: aber Resume und freie Phantasie sind
Scylla und Charydis der Kritik. Jedoch— eine einzeine
Gestalt aus dieser Galerie zu wählen ist nicht leicht.
Ihr Reichtum ist zu mannigfaltig und gross. Wir be-
gegnen Blond, Brideau, Nathan, jener ganzer Schar
Pariser Journalisten mit käuflichen Federn und gut
verstecktem Gewissen -- einer Gesellschaft mitten in
der Gesellschaft, einer klebrigen Gesellschaft, die Balzac
mit Vorliebe behandelt, wahrscheinlich weil sie alles
widerspiegelt: Elend und Luxus, Aufopferung und
Verbrechen, und weil der beständige Kampf hier zum
Handgemenge wird, zum Faustkampf, beinahe zur
Schlägerei: Wir treffen Gobseck, Grandet, 1 Claes,
Wucherer, Alchimisten und Geizhälse, Leute, für die
das Gold Zweck und nicht Mittel geworden ist, und
die sterbend nach dem Kruzifix tasten, das ihnen mit
dem Glanze des Silbers entgegenleuchtet. Wir sehen
de Marsav, Rastignac, de Trailes, Modeherren, die
jeden Tag ailes wagen, um ihr Ziel: Leben und Glück
zu erreichen. Wir lernen Cesar Birotteau kennen,
Chesnel, David Sechard, Ehrenmänner mitten im
Elend. Diese unendliche Schar von Gestalten zieht
an unserem Blick vorbei, und wenn wir unter all
diesen Typen Lucien Rubenpre herausgreifen, so
geschieht es beinahe aufs Geratewohl. Unter einer
solchen Menge kann man nicht wählen, man greift
halb ins Dunkle. Lucien ist der Sohn eines Apothekers
und einer adligen Dame. Er erbte von seiner Mutter
eine verhängnisvolle Schönheit und eine Begabung,
die ihm zu ihrem Abgott macht. Er wird von allen
blind vergöttert. Sein Taient gewinnt ihm die Männer,
seine Schönheit die Frauen. Unter diesen Madame
Bargeton, die sich in den Sohn des Apothekers ver-
liebt und ihn zu sich einladet. Wir verfolgen nun Tag
für Tag seine Liebe, sehen ihn langsam aus Louisens
Sklave ihr Herr werden, sehen ihn alimählich seine
Familie verleugnen und ihr langsam alles rauben Aber
dieser Egoismus erwacht ganz allmähiich. Schleichend
bemächtigt er sich seines ganzen Wesens, bis die Zer-
störung vollendet ist und Lucien reif, seiner Geliebten
nach Paris zu folgen. Balzac führt seine Umwandlung
nicht durch jähe Uebergänge herbei, er manövriert be-
ständig mit Kleinigkeiten, mit Belanglosigkeiten, mit
jenen „riens“, aus denen das Unendliche zusammenge-
setzt ist. Lucien kommt nach Paris, er schlendert aHf
den Boulevards herum, und nach und nach kommt er
dahin, sich seiner Kleidung zu schämen, seiner Wäsche,
die seine Schwester in einer schlaflosen Nacht ge-
plättet hat, seiner Stiefel, die keine Stulpen haben. Er
geht zu einem Schneider und wird „neu“ — aber die
neuen Kleider sind zu neu, und man lächelt in Ma-
dame d’Espards Loge über ihn. Er hatte auf diese
Kleider gehofft, er wollte in diesen Kleidern triumphieren,
seine Schönheit ins Licht setzen und man lächelt.
Ausgelacht und verhöhnt ballt er die Hände gegen die
Gesellschaft. Aus tausend Dingen, ist sein Hass er-
wachsen, die man Lächerlichkeiten nennen könnte, wenn
man sich nicht selbst sagt, dass gerade solche kleinen
Dinge die grossen Faktoren im Roman des Lebens
werden.
Nun wird Lucien in das Gewühl des Pariser Lebens
gezogen. Ich kann ihm nicht durch diesen Kampf
folgen, der seinen Egoismus verdoppelt und seine Zer-
störung vollendet. Aber überall finden wir in der Schilde-
rung dieselbe Klarheit, und alles trägt das Gepräge der
unerbittlichen Notwendigkeit der Wirklichkeit.
Zuletzt diese ergreifende Szene an Coralies Toten-
bett. Lucien hat kein Geld, alles ist verpfändet und
verkauft. Und da neben ihm, auf dem Bett liegt die
Frau, die er so sehr geliebt hat, als er lieben kann,
und die ihm alles geopfert hat und jetzt für ihn stirbt.
Wie soll sie unter die Erde kommen, wie soll er sie
begraben lassen? Während ihr brechendes Auge ihn
sucht, sitzt er am Bett und schreibt — ein Buch-
händler hat bei ihm ein paar obszöne Lieder bestellt.
An ihnen arbeitet er. Und von Zeit zu Zeit muss er
die Melodie summen, um zu prüfen ob die Worte
passen. — Bis dahin ist alles vollendet oder beinahe alles.
Von hier an gleitet Lucien in das Abenteuer, in die
Phantasie, beinahe in Phantasterei — wie alle Haupt-
personen Balzacs. Dieser grosse Beobachter wird gegen
Ende seiner Bücher immer zum Phantasten. Die Phan-
tasie, die er solange gezügelt hat, geht mit ihm durch.
und er wird selbst mitgerissen und geht in dem wir-
belnden Strudel unter, den er aufgepeitscht hat. Was in
seinem Leben Geisteskrankheit war, wird in seinen
Büchern zügellose Ekstase. Er übertreibt die wahren
Züge, er schafft für das Alltägliche gigantische Formen.
Nachdem er ganz real gewesen war, wird er schliess-
Iich ganz unwahrscheinlich. Und von einem Roman,
der uns durch seine Wahrheit verblüfft, gleitet er
hinüber uns ein Abenteuer zu erzählen, das fast an
E. Th. A. Hoffmann erinnert.
Aber Vautrin ist noch unwahrscheinlicher ate
Lucien.
Vautrin, der äusgebrochene Galeerensklave, der
gemeine Verbrecher, der „Napoleon der Galeeren.“
Balzac ‘hat eine Schwäche für solche Gestalte«
Sie sind Ausgeburten seiner Phantasie und nehmen aU
das Phantastische in ihm gefangen. Seine unerschöpf-
liche Erfindungsgabe macht diese Verbrecher zu Helden
in Hunderten von Kämpfen, er lässt sie siegen, trium-
phieren und zerstören; er verliebt sich in ihre grenzen-
lose Verworfenheit, er lässt sie zu Titanen wachsen
und macht sie beinahe zu Göttern — er macht die
Schlechtigkeit bezaubernd, indem er sie unmenschlich
gross macht. Jener Baron Hulot, den Taine für eine
der grössten Gestalten des Dichters hielt, hat gewiss
viel zu dem Ruf der Immoralität Balzacs beigetragen.
Er bewundert die Stärke, wo er sie findet und ver-
herrlicht die Kraft, auch wenn sie im Dienste des
Verbrechens steht.
Seine Verbrecher imponieren wie Michelangelos
Statuen.
Der Vorwurf des Unmoralischen lässt sich am
'eichtesten gegen einen Schriftsteller erheben, sagt
Madame Surville. Sie hat Recht. Aber wenn ma«
ihn zu einem gewissen Zeitpunkt mit seltener Einstim-
migkeit gegen ihren Bruder richtete, so war dies recht
natürlich, und die Schuld lag nicht allein an seinea
Feinden, die ihm missverstehen woliten, sondern auch
an ihm, der missverstanden werden konnte. In dem
rasenden Kampf, der in seinen Büchern tobt, siegt
stets die Stärke. Wenn auch Balzac in seinen Vor-
reden Christ ist, in seinen Romanen bleibt er ein
Schüler Voltaires. Die Religion ist für Balzac nur
eine Notwendigkeit, die Völker zu zügeln, wie der Ab-
solutismus. Die Polizisten zähmen die Körper, das
Christentum die Geister, und was Balzac Sympathie
für diese beiden Mächte einflösst, ist ihre Stärke und
nur sie. Er hat im Grunde ganz dieselbe Sympathie
für den Verbrecher Vautnn — sie siegen, beide kraft
ihrer Stärke.
Balzacs Bücher erinnern an einen verwirrten brau-
senden Hexentanz, und sein Stil passt genau zum In-
halt Man kann schwer etwas Ungeordneteres finden,
als ein Buch von Balzac. So wie seine Personen-
galerie bald ein Wachsfigurenkabinett ist und bald ein
mächtiges Museum, erinnert seine Sprache und sein
Satzbau an ein reiches Warenhaus. Nur Zola hat
noch mehr unübersetzbare Worte als er, nur Zola
kann die Sätze so auftürmen. Aber bei dem Begrün-
der des Naturalismus ist der Stil gleichartig, die Methode,
die Art zu sprechen, stets dieselbe. Balzac ist immer
neu. So wie er Worte aus allen Wissenschaften
durcheinandermischt, ahmt er kühn den Stil aller Peri-
oden nach, und der originellste Schriftsteller, der viel-
leicht je gelebt hat, ist infolge dieser gewollten Nach-
ahmung der Unoriginalität bezichtigt worden.
Selbst die letzten Werke legen Zeugnis von der
Arbeit ab, die es ihm gekostet hat, seinen Platz als
grössten Dichter Frankreichs zu behaupten, den ihn
Taine im selben Atem mit Shakespeare nennt
Wenn man ihn gerade ganz sicher glaubt und eine
Feinheit in der Beobachtung, eine anmutige Periode
der Sprache bewundert, wird man von einer starken
Uebertreibung und einem holprigen Satzbau wieder ab-
gestossen. Balzac war nie einheitlich. Und wenn
nicht ein Engel und ein Teufel in ihm wohnte, so
waren doch zum mindesten zehn Menschen in ihm.
Man sagt, dass es das Schicksal der grössten und
wahren Dichter ist, erst nach ihrem Tode anerkannt zu
werden.
Man sollte vielleicht eher sagen, dass man einen
Dichter nach dem Einfluss werten kann, den er nach
seinem Tode erlangt. Shakespeare hat für Jahrhunderte
geschrieben. Balzac, der in einer Zeit lebte, wo alles
so unendlich rasch wechselte, hat auf jeden Fall für
viele Generationen geschrieben. Der Einfluss, den er
auf die Literatur seines Landes und dadurch auf die
der ganzen Welt ausübte, ist unberechenbar.
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