Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI issue:
Nr. 46 (Januar 1911)
DOI article:
Friedlaender, Salomo: Der zarte Riese
DOI article:
Hiller, Kurt: Notizen
DOI article:
Schickele, René: Lektüre, [2]
DOI article:
Selka, Hermann: Rachel
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0372

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
er bei sich, wohlanl Er nahm einen toilen Anlauf,
sprang himmelhoch, vollführte in den Wolken einen
Salto mortale und fuhr kopfiiber so blitzlings mit dem
Schädel auf die nächste Kirchturmspitze, dass seine
Seele garnicht ohne Salbung von hinnen ging. Der
Turm schlug mit dem prachtvollen Gigantenleib zwei
Stadtteile in Triimmer: der Dichter Promethke starb
bei dieser Gelegenheit. Und nun begann — nasus
teneatisl — das Zeitalter der Verwesung, das noch
bis auf die heutige Nacht fortdauert. — So kann
wahre Sanftmut wirken wie höllischste Teufelelei —
sollte sie von einem Riesen herrühren.

Notizen

Von Kurt Hiller

Historie treiben heisst dem Nachdenken aus dem
Wege gehn, ist also ein gutes Rezept für Glück-
seligkeit.

Ich bin stets entzückt, wenn mich ein Freund un-
angemeldet besucht. Eine bis in die letzten Fasern
kritische, eine kaum mehr zu enthusiasmierende Rasse
soll sich wenigstens den Reiz der Ueberraschungen oft
gönnen, ja sogar ihn künstlich erzeugen.

Stilistische Apodiktizität: der Schutzpanzer der
Skeptiker. (Hauptbeispiele: Nietzsche, Weininger,
Kraus).

Manche Leute giauben eine Ansicht verdächtigen
zu können, wenn sie blinzelnd versichern, sie sei
psychologisch zu erkiären. Als ob eine Idee nur so
lange Berechtigung hätte, als es unverständlich ist, wie
sie entstehen konnte.

Der Purist: Ein Musterbeispiel der Unkultur. Er
hasst die Mannigfaltigkeit, den Reichtum, die Nuance.
Er will alles uniformieren, vereinfachen, in Schemata
sperren. Die Sprache wird schon ihren Grund haben,
wenn sie, als „Synonymon“ eines deutschen, ein frem-
des Wort ins Leben wirft. Der Purist aber ist aus
Ueberzeugung bärentatzig, zertöpfert imponderabile
Unterschiede, benimmt sich als Henker alles Zarten.
Er ist neuklassisch

Man kann den philosophierenden Haeckel lächerlich
finden und dennoch angewidert sein, wenn im Parla-
ment, also vor einem Auditorium Unintellektueller, ein
freisinniger Oberlandesgerichtsrat ihn — lobt.

Probleme, deren Gegenstand die menschliche Seele
ist, ähneln dem Metalle Quecksilber, als welches unsre
Fingerspitzen zwar betasten, aber nicht ergreifen
können.

Jene Privatdozenten, die davon träumen, aus der
Philosophie eiqe „evidente Wissenschaft“ zu machen
„gleich der Mathematik“, sind die Alchimisten der
Neuzeit.

Der berühmte Milieu-Soziologe Gumplowicz hat den
Satz geschrieben: „Ein Irrtum, der Mensch denkt.“
Wir beleidigen also nicht den toten Forscher, sondern
das Milieu, in dem er gelebt hat, wenn wir erklären,
dass dieser Satz einen erschütternden Blödsinn enthält.

Wie gewisse Aerzte es im Interesse ihres Ansehens,
ihrer Dignität, ihres Ernstgenommenwerdes für unum-
gänglich notwendig halten, dem Patienten auf alle Fälle
übelriechende und übelschmeckende Arzneien zu ver-
ordnen, so glauben die meisten Philosophierer, sie ver-
geben sich etwas, wenn sie eine wohlriechende und
wohlschmeckende Sprache, ein anschauliches, behendes,
heiteres Deutsch schreiben. Sie haben ganz recht,
diese klugen Kaufleute: ohne barbarischen Stil hält
das Publikum sie nicht für seriös.

Nicht neue Antworten, sondern neue Fragen machen
den neuen Denker aus.

Es ist sehr riskant heutzutage, sich mit Rechts-
phiiosophie zu befassen: man läuft stets Gefahr, wenn
man einem Stammler kaum entronnen, einem Kohler
in die Hände zu fallen

Wenn ein Mann von Niveau behauptet, alle Men-
schen seien gleich, so ist er entweder Masochist oder
perfide.

Jeder Schaute lehnt es heute ab, „für die Masse“
zu schreiben. Weit gemeiner aber als: für die Masse —
ist es: für die Masse der Gebildeten zu schreiben.

Ein Aesthet ist ein wundervoller Mensch. Nur
darf er, wenn rnan seinen Typus angreift, sich nicht
zu rechtfertigen suchen. Das widerspricht ihm I

Am 26. August 1909 äussert sich Herr Harry Kahn
über die „Lüge von der alleinseligmachenden Persön-
lichkeit.“ Kunststück! Dass Herrn Kahn seine Persön-
lichkeit nicht selig macht, will ich schon glaubeB.
Aber ist das ein Grund, sich darüber zu beklagen,
dass das „gesamte Kunstschaffen des ganzen letzten
Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen seinen Aus-
gang nimmt von des Autors Seele?“ Lebten denn
sämtliche Autoren des letzten Jahrhunderts mit Herrn
Kahn in Seelengütergemeinschaft? Dies ist doch
wohl eine irrtümliche Hypothese. Aber nur von
ihr aus erklärt es sich, dass Herr Kahn das „persön-
liche Erlebnis“ dieser Dichter insgesamt, als „sub specie
aeternitatis völlig gleichgültig“ bezeichnet. Neuklassische
Litteraten schliessen eben immer von sich auf andere.
Weil Herr Kahn seine eigenen Erlebnisse mit Recht
für belanglos hält, müssen, meint er, auch die Erleb-
nisse der Grossen belanglos sein. Und die Dichtung
hat folglich ihren „Ausgang“ zu nehmen statt vom Er-
lebnis „von der Gesamtheit, in der bestimmte Tendenzen
zittern, die von der Kunst erlöst und erfüllt werden
wollen.“ . Welch’ deutliche Bildersprache I Aber wo
sitzen denn, mit Verlaub, die „zitternden Tendenzen“?
Zwischen den Hirnen? Oder nicht vielmehr in
den Hirnen, als Erlebnisse? — Ach so, in der
„Gesamtheit“ sitzen sie ja.

Lektüre

Von Rene Schickele

Die „Nouvelle Revue Fran<;aise“ erscheint
monatlich. Wer Andrd Gide liebt, wird in jeder
Nummer mit Vergnügen mehrere Seiten von ihm finden.
Paul Claudel, Verhaeren, Ruyters, Ghüon, Schlumberger
sind ständige Mitarbeiter Die beiden letzten Nummern
enthalten Jugendbriefe des bis zur Genialität begabten
Armenhäuslers Charles-Louis-Philippe, der vori-
ges Jahr, in der Reife seiner Produktion, starb und
jetzt erst — durch seine erstaunlichen Briefe — seine
ganze grosse und so traurige Menschlichkeit preisgibt, %
die ihn ganz unerwartet, dem Pauvre Lelian der Spital-
elegien nahe bringt. Aber Verlaine war vom Leben
verdorben. Dieser hier hatte noch nicht angefangen
zu leben, als er sich schon irn abgründigen Elend ver-
sinken fühlte. Einmal spricht er von Stunden „oü nous
avions des larmes et des sourires dans la peau.“
Oder: „II y a un ciel miraculeux ici, bleu tenu et
blanc leger, j’en ai l’äme tres fine et melancolique “
Beispiele einer vornehmen Empfindsamkeit . . . Sein
Vater war Holzschuster. Philippe lebte in Paris wie
in der Verbannung, er schätze sich wahrhaft glücklich,
einhundertundsechzig Francs monatlich zu verdienen
als kleiner städtischer Beamter, (eine Sinnekure, die
Barrfes ihm verschafft hatte.) Kurz nach fünf Uhr
abends war er frei. Dann schrieb er, auf seinem
Stübchen, von wo er auf Notre Dame hinübersah.

Er war nicht glücklich in Paris. „Si je gagnais un
peu d’argent, j’irais m’enfermer dans ma province, et
fumant des pipes, regardant les choses, je serais si
heureux que j’en viendrais ä croire qu’il y a un Dieu
qui me bünit. Je m’y marierais, je te l’ai dit, ma
vie s’ücoulerait loin de Paris, je pourrais dcrire de
beaux livres, parce que ma vie y serait toute. J’aurais
des pensües infinies, je iirais, je reverais, je vivrais,
je regarderais vivre, mon coeur serait tendre, et je te
dis que j’äcrirais des livres d’une tendresse fort belie.“
Der Roman „Bubu de Montparnasse“ machte
ihn endlich bekannt. Der „Matin“ nahm ihm seine
Novellen ab. Er dachte daran, seine „Sinekuren“
aufzugeben und „ein anständiger Mensch“ zu werden.
Seine tiefe Melancholie lernte lachen. Er war stolz,
Geld zu verdienen und seinen Namen nennen zu

hören — denn er hatte lange genug über die „con-
spiration de silence“ geknirscht, worin seine Bücher
untergingen, und, die Hand in der Tasche, heimlich die
grossen Sous gezählt, wenn er durch die „östlichen
Qärten“ der grossen Boulevards ging.

So haben ihn seine Freunde wenigstens in „seiner
Provinz“ begraben und die „NouvelleJRevue franfaise“
hat eine Subskription eröffnet, damit der arme Phillppe
ein schönes Denkmal bekommt.

IV

Die französisch lesen können, sollten den Roman
„Marie-Claire“ von Marguerite Andoux kaufen
(Bibliotheque Charpentier). Marguerite Andoux ist eine
Näherin, die wegen eines Augenleidens nicht mehr ar-
beiten durfte. Sie schreibt schon lange — um sich
in ihrer Einsamkeit zu trösten, wie es im plötzlich
ausgebrochenen Tumult der Reporter hiess, und vor
allem wohl, weil sie zu schreiben berufen war. Philippe
entdeckte sie. Mirbeau gab ihren Roman „Marie-
Claire,“ mit einem enthusiastischen Vorwort, dem Ver-
leger Fasquelle. Sie bekam den Preis der „Vie heu-
reuse“: fünftausend Francs, der Roman wird vie! ge-
kauft. Ein Talent, das, noch stummer, noch verlassener
als Philippe, unbemerkt vorbeigehn zu sollen schien,
und das gerettet ist.

„Marie-Claire,“ die Geschichte einer Waise, die von
den barmherzigen Schwestern erzogen wird, hat einen
sehr schönen ersten Teil; und der Schluss ist gross-
artig.

Ich las noch andre Bücher Aber über der „Marie-
Claire“ habe ich sie alle vergessen.

Jetzt bin ich wieder gesund und habe keine Zeit
mehr zu lesen.

Rachel

Es gibt noch auf der Welt Bruderliebe. Aber in
Elend und Kümmernis geht das Leben zweier Brüder,
die sich einander gut sind. Und dem Schrecken wird
kein Ende.

James und Allan liebten sich. Von früh an haben
ihre Wege auseinander oder nebeneinander, niemals
ineinander geführt. Nur das eine hatten sie gemein-
sam: die Liebe zur Natur. Nur ihr Gefühl zog sie
unter die hohen, dunklen Bäume, nur ihre tiefe Ah-
nung, dass auch die Holzstämme, die weit in den
Himmel ragen, leben, aber leben, wie sie müssen,
keineswegs so, wie sie wollen und wünschen Und
sie wussten um die Tragödien, die zwischen den Höl-
zern sich abspielten und um die Kämpfe, die langen,
wilden Kämpfe, die jeder in sich und mit sich allein
auszukämpfen hatte. Und ihnen schien: Der Mensch
ist wie ein Baum.

Beiden, James und Allan, sollte dieses unbestimmte
Gefühl zur Gewissheit werden. Jedem zur einer ande-
ren Zeit.

Beide lernten sie Rachel kennen Beide liebten
sie Rachel und Rachel liebte beide.

Das konnte nur Rachel. Nur sie allein war im-
stande, viele zu lieben, sich von allen lieben zu lassen,
auf alle einen Bann, einen Zwang auszuüben und sich
von allen knechten zu lassen.

Woher stammte dieses Weib mit den merkwürdigen
schmalen, spitzen Füssen, mit den dürren Fingern,
diese schlanke, schöne Gestalt, mit den tiefen, glän-
zenden Augen, die gar zu oft wie Glas glotzten —
niemand weiss das. Ueber ihre Herkunft ist ein dichter
Schleier gebreitet. Niemand kennt ihren Erzeuger, nie-
mand ihre Gebärerin.

Auf dem christlichen Friedhof fand sie der Trödel-
jude Simon Jumaisohn an dem Abend, als ihn eine
innere, verhängnisvolle Stimme dorthin trieb, wo er
nichts zu suchen hatte.

Auf einer Bank lag in Zeitungspapier gewickelt
ein wenige Tage altes Kind. Er nahm es mit sich
und erzog es und verzog es. Das kann man Simon
nicht übelnehmen. Woher sollte er wissen, wie man
Kinder erzieht. Er liess ihr in allem den Willen. Er
beugte sich ihrem Gebote. So wurde Rachel. Ihre
Wesen beherrschte sie. Sie gab sich stets wie sie
war. Und ihre einzige Sehnsucht erstrebte sie mit allen
Mitteln zur Erfüllung zu bringen. Geld — Gold in
Bergen. — Das war ihr Ziel.

366
 
Annotationen