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Mannheimer Abendzeitung — 1845

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No. 176 - No. 206 (1. Juli - 31. Juli)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44007#0801

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Dienstag

15. Juli

:















* Die Engländer in Württemberg und die Profeſlo-
ren in Tübingen – reine Eiſenbahnfrage.

* Mannheim, 13. Juli.
ſchafilichen Fakultät rer Hochschule zu Tübingen haben sich in einem
wotivirten Votum gegen die Ueberlaſſung der Eisenbahn an eine Pri-

vatgeſellſchaft überhaupt und an eine englische insbesondere nachdrück-
lich ausgesprochen. Es ist ein erfreuliches Zeichen der fort-
ſchreitenden Zeit, wenn deutsche Professoren der. Staatswirthſchaft
ſich um wichtige Fragen res Tages bekümmern und mit ihrem Wiſ-
sen dem prakiiſchen Leben nützlich zu werden trachten; noch erfreu-
licher iſt es, wenn sie nicht nur in Handbüchern und auf dem Ka-
theder, sondern in der Tagespreſſe vor dem ganzen Volke ſich
über ernſte Frage des Tages aussprechen. Wir faſſen den
Hauptinhalt des Votums kurz zuſammen. Das Votum sagt:

Mir erachten die Ueberlaſſung der Hauptbahnlinie an Privatpersonen in
geregelten Zuſtänden *), und seien die Concessionäre wer sie wollen, für ei-
nen entschiedenen Fehler! + Dieser Fehler beſtehe darin, daß der Staat etwas
abtirete, was er nicht kenne; daß er Regierungszwecke und Mittel aus der Hand
gebe. die er nicht missen sollte. Privatpersonen werden ihren Vortheil im
Auge haben, welcher nicht immer mit dem allgemeinen Wohl zusammentreffe;
nur der Staat könne Letzteres gehörig bea.hten. Vertragsbedingungen und Con-
trole helfen nichts, ſie ſtehen blos auf dem Papier. Endlich werde mit den Pri-
vatbahnen die Agiotage und Beſtechung mit all ihren entsittlichenden und wirth-
ſchaftlich-verderblichen Folgen hereinbrechen. > Diese Rachtheile würden
noch gesteigert, wenn die Bahnen an Ausländer abgetreten würden. Da-
raus entſtänden politische Unannehmlichkeiten, Gefährdung der Selbfstſtändigkeit
des Staates und des induſtriellen Sinnes der Bürger, im Falle eines Krie-
ges aber sei plößliche Stockung des Betriebes, ja selbſt Verrath zu besorgen.
Deßhalb wäre sogar ein Bundesbeschluß gegen jede Ueberlaſſung von Haupt-
linien an Fremde gerechtfertigt. + Völlig unerträglich aber würden diese
Mißstände, wenn die Fremden Engländer wären. Sie sind entsſchlosene,
gefährliche und gewalthätige Gegner unserer Gewerbe, würden durch ihre
Bahn die Einfuhr ihrer Fabrikate begünstigen, die Einfuhr der Rohſtoffe
erschweren, wogegen keine Bedingung oder Vorkehrung schütze, und ihren
Cinfluß benüßen, um Verwicketungen herbeizuführen, welche im Voraus
nicht zu beſtimmen seien; dabei wird auf die neapolitaniſche Schwefelfrage
hingewiesen. Zudem sei kein Grund vorhanden, der Württemberg zwinge, die
Bahn den Engländern zu überlassen, und kein Vortheil zu erwarten, der je-
nen Nachtheilen irgendwie die Wage halte. Es sei eine grobe Selbſsttäu-
c<ung, wenn man glaube, Württemberg erhalte auf diese Weiſe die Wohl-
th at der Eisenbahnen geschenkt; im Gegentheile würden die Engländer ihr
Kapital sammt Zinsen und großem Gewinne aus vem Ertrage der Bahn
atlmälig hergusziehen; denn daß sich die Bahn gut rentiren werde, beweise
am Beſten das Anerbieten der Engländer selbft. **)

Die Vermehrung der Staatsschulden für ein nütliches, einträgliches Un-
ternehmen sei keine Laſt für die Finanzen, sondern ein Gewinn, kein Unglück
ür das Land, sondern ein Fortschritt im Vermögen; es sei keine Steuererhö-
hung zu befürchten, sondern eher eine Verminderung zu hoffen. + Die Ein-

, ührung von fremdem Kapital könne allerdings unter Umſtänden vortheil-
haft sein, allein hier nicht, wo es wucherlich verzinst werden müſſe und
außerdem zu einer bedenklichen Concurrenz in andern gewerblichen Richtun-
gen Veranlaſſung gebe; der Staat werde übrigens ebenfalls ausländische
. Lapitalien anleihen, aber nur zu 3'/.% verzinsen. Daß die Engländer wohl-
feiler und schneller bauen würden als der Staat, sei ungewiß und sogar
unwahrscheinlich. Gewiß sei, daß der Staat Geld und Credit genug zu den
Eisenbahnen habe und, wenn er nur ernstlich wolle, eben so schnell bauen
könne, wie eine Gesellschaft. Die Vermehrung der Zahl der Beamten sei we-
niger bedenklich, als eine Schaar von Fremden oder Inländern, welche den va-
terländischen Interessen entfremdet und an englischen Einfluß verkauft wären.
Nur in dem JZalle endlich, und auch dann nur vielleicht, könnte man sich
zu dem ſchmerzlichen Opfer einer Abtretung der Bahn entschließen, wenn
Württemberg sich das troſtloſe Zeugniß ausstellen müßte, es sei völlig un-
fähig zur Anlegung und zum Betriebe der Bahn. Dies zu behaupten, werde
aber niemand wagen. Was diese Engländer können, das vermag Württem-
berg auch ***). Bedarf es dann noch einer weitern Stärkung, so blicke man
auf Bayern und Baden ; noch nie hat Württemberg verzweifelt, leiſten zu
können, was jene vermochten.

Dies sind die Gründe, welche die Mitglieder der ſstaatswirth-

ſchaftlichen Fakultät zu ihrer unbedingt verwerfenden Ansicht über die
: Abtretung der Eisenbahnen an eine engliſche Gesellschaft bewegen.



tet §). Die Ueberlasung der Hauptbahnlinie an Privatpersonen in unge-

regelten Zuſtänden wäre sonach kein entschiedener Fehler.

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" penſter. Ö st her Negierung'zttrantzsagegen Pteeiezt tt
. tth.güh gesprochen; aber woher alsvann die Furcht ? |



Die Mitglieder der ſiaatswirth-

Württemberg kann seine Hauptbahn selbſt bauen; bei geschickter,
kräftiger Leitung der Arbeiten kanu der Staat ſo billig und so rasch
bauen, wie eine Geſellſchaft; bei einsichtsvoller Behandlung der er-
forderlichen Finanzoperationen, insbesondere bei zweckmäßiger Benutzung
des Papiergeldes, kann er die Mittel billig erhalten und die Tilgung,
womit es bei produktiver Verwendung ohnehin keine Eile hat, so ein-
richten, daß der Ertrag der Bahn wenigstens größtentheils dazu aus-
reicht. Die Opfer, welche während des Baues und noch einige Zeit
nachher aus der Staatskasse gebracht werden müſſen, finden sich in
der Reflverwaltung und ten laufenden Ueberſchüſſenz sie sind vorü-
bergehend und werden durch den Vortheil aufgewogen, daß der Staat
die Bahn unmittelbar in der Hand hal, daß er ohne Zeitverluſt und
lästige Unterhandlungen alle Anordnungen treffen kann, die vas In-
tereſſe des Verkehrs und der Volkswirthschaft überhaupt verlangen.
So weit sind wir mit dem Votum einverstanden. Wären jedoch die
Voraussetzungen, unter denen eine Staatsbahn einer Gesellſchaftsbahn
vorzuziehen iſt, nicht vorhanden, so würden wir es keineswegs für
einen Fehler halten, die Ausführung des Unternehmens einer Gesell-
schaft, und wenn sich im Lande keine fände, einer ausländischen, selbſt
einer englischen, zu überlaſſen. Der Sat,, daß die Ueberlaſſung der
Haiauptbaznlizira an G.sellſchaften ein entschi edener Fehler
sei, iſt nicht nur unrichtig (weil er zu viel sagt), sondern er iſt auch
ganz n eu in der Staatswirthſchaftslehre.

So lange man die Eisenbahnen nur als anwendbar für die
Verbindung je zweier größeren, nicht sehr weit von einander entfern-
ten, in lebhaftem Verkehr nrehenden Punkte erachtete, war von Staats-
bahnen kaum die Rede. Es galt vielmehr der Satz, daß der Staat
keine Unternehmungen machen solle, welche die Privatinduſtrie aus-
führen könnez wie er z. B. keine bürgerlichen Gewerbe treiben soll.
Seitdem jedoch der Geſichtskreis sich erweitert hat, und die Ciſenbah-
nen beſtimmt sind, ganze Länder, wenigstens in den Hauptrichturgen
zu durchziehen, mit Rückſicht auf den Lokalverkehr, ~ iſt auch dem
Staate eine Rolle dabei zugetheilt worden. Er hat nicht nur die
Richtungen zu beſtimmrn, welche in induftriellec, commercieller, und
ſtrategiſcher Beziehung mit Schienen belegt und mit Dampfwagen
befahren werden sollen, sondern er hat auch dafür zu sorgen, daß
diese Linien hergestellt werden. Unterläßt er dies, so läuft er Gefahr,
daß nur für einzelne Bahnſirecken, woelche eine Rente versprechen, Ge-
sellschaften auftreten, während vielleicht gerade die wichtigsten liegen
bleiben, kurz, daß kein ganzes Syſtem sondern ein Chaos von Bah-
nen entſteht. Daraus folgt aber nicht, daß der Staat alle Haupt-
richtungen selbſt bauen muß, er wird dies nur da thun, wo das ail-
gemeine Intereſſe dafür entscheidet, oder wo keine Gesellſchaft den
Bau unter Bedingungen, welche dem Lande den Nuten sichern, un-
ternehmen will. Einen entschiedenen Fehler würde er nur dann be-
gehen. wenn er diese Linien überhaupt unausgeführt ließe. Wäre
die Begebung an Gesellschaften ein entschiedener Fehler, so haben
alle Staaten sich vorzuwerfen, daß sie denselben entweder im Anfange
begangen haben, oder später in denselben verfallen sind. Nach von
Redens Eisenbahnbuch sind unter den 326 Meilen Schienenwegen,
welche in D eu ts <1 and dem Verkehre eröffnet sind, 222 von Ge-
sellschaften und nur 104 vom Staate erbaut; unter den 1604 Mei-
len, die theils fertig, theils im Bau begriffen, theils ernstlich projec-
tirt sind, befinden ſich 1039 Meilen Privatvahnen und nur 565
Meilen Staatsbahnen. In Großbritannien und Irland wer-
den 410 deutsche Meilen betrieben und darunter ſind nur zwei kleine
Strecken vom Staate ausgeführt. Belgien, dessen weise Regierung
die Nothwendigkeit erkannte, die Hauptlinien schnell herzuſtellen, hat
dies rühmlichſt ausgeführt, aber nicht, weil ces die Begebung an Ge-
ſellſchaften für einen entschiedenen Fehler hielt, sondern well es nicht
abwarten konnte, ob und wann sich Geſellſchaften bilden würden.
Gegenwärtig ertheilt Belgien Conceſſionen an Gesellſchaften, für
Strecken, die zusammen ſo viel betragen wie die Staatsbahnen.
Frankreich, welches über tauſend Millionen auf seine Canäle verwen-
det hat, überläßt die Eisenbahnen an Gesellſchaften, sogar an eng-

lische, wie z. B. die Bahn von Paris nach Rouen. Mehrere

Staaten der nordamerikanischen Union haben ihre Canal- und Eisen-
bahnſyſteme selbſt gebaut, aber auch nicht, weil ſie die Ueberlaſſung
an Geſellſchaften für verwerflich hielten, sondern weil die Gesellschaf-


 
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