Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mannheimer Abendzeitung — 1845

DOI Kapitel:
No. 207 - No. 237 (1. August - 31. August)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44007#0977

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
M 232.

Abonnement mitvier-
teljähr. Vorausbezahlung
in Mannheim 1 fl. 15 kr

Ausland erhöht sich das
Abonnement um den Poft-
aufschlag.

Dienstag

..:: Mannheimer Abendzeitung.

26. Auguſt



Inserate diegespaltens
Zeile in Petitschrift oder
B .
rate, worüber die Revak-
tion Auskunft zu ertheilen
hat, die Zeile oder deren
Raum 4 kr. + Briefs
und l)ttr erbittet man
ranco.

1845.



* Pleber die neue Richtung der Geſchichiſchreibung,
Die Lehre „rliebe deinen Nächsten als dich ſelbſt" dieſe Lehre der

Piebe, der Gleichheit, der Verbrüderung, die das gepriesene klaſsiſche

Alterthum mit seinen Sclaven, seinen Heloten, nicht kannte, diese Lehre
die allein hinreichen könnte, uns von dem göttlichen Urſprung des
Chriſtenthums zu überzeugen + ſie ergeht in unserer Zeit aufs Neue
au die Völker; und mag diese Zeit auch als gleichgültig gegen das,
was man Religion nennt, verläumdet sein, in den allerwärts regen

Beftlrebungen für das Wobl der arbeitenden Claſſen, der Verwahrlo-

ften, der Armen, findet sich eine wohlthuerde Widerlegung Derer,
bie an der Verbeſſerung des Menſchengeſchlechts verzweifeln.

Daß aber dieſe Beſtrebungen nur der Tropfen ſind, der in das
unermeßliche Meer des Erden-Clends fällt, wer bezweifelt ties! Sie
geben Zeugniß edler Gesinnung, aber an Dem, was man die Natur
der Dinge nennt, können sie Nichts ändern. Ja tie Natur der Dinge!
die Natur! Wer wollte gegen die Geseze der Natur kämpfen! Ob
aber die glücklichen, im civiliſirten Luxus lebenden Claſſen ver Ge-
ſellſchaft auf der breiten Unterlage des Elends wirklich wie auf grau-
ſamen Gesetzen der Natur ruhen, ob außer dem Allmoſsen nicht an-
dere, mächtigere Heilmittel möglich find ~ wer wagt es, auf tiese
Frage, eine Frage, welche die ganze Weltgeschichte ausfüllt, eine ab-
sprechende Antwort zu geben! „Ja die Wlltgeschichte zeigt, daß es
nie anders war, und so wird es auch nie anders werden-. dies die
troſtloſe Aniwort, die wir hören, und die uns nicht erſtaunen macht,
da seit zweitausend Jahren die Armuth keinen Geſchichiſchreiber gefunden.
Von den Geſlchichtschreibern des Alterthums, das die Sklaverci als
ebenſo natürlich betrachtete, wie wir das Elend der s. g. niederen
Claſsen, konnte man es ohnehin nicht erwarten, und noch in unseren
Tagen hat den größten Ruhm der Geschichiſchreiber geärndet, der
Alles preiſt, was gelingt, und nur dem Slücklichen, dem Starken
die Palme reicht. !)

Aber auch die Geschichiſchreibung, der man allzulange die Thu-
eydides und Livins als Mufter vorgehalten, bricht sich verjüngend eine
neue Bahn und ein weißes Haupt iſi's, das diese Verjüngung beginnt.

Mit raſchcr Hand wirft Schlosser ?) noch im Alter den ehr-
würdigen Mantel der Gelehrsamkeit hinweg und weiht ſich, wie er
ſelbſt so rührend bekennt, den Schwachen und Unterdrückten.

Fun k ?) sein würdiger Schüler, ungeblendet von den großen
Thaten und Namen der gewaltigen französischen Umwälzung, geht an
der Hand deutscher Watxrhcitêtreue ſicher durch die Labyrinthe herr-
ſchender Ansichten und sucht überall das namenloſe und von Namen
betrogene Volk auf, dem Leser selbt die Frage überlaſſend, was ha-
ben die \ e m die Umwälzungen genutzt? ~ Und beiden zur Seite, jen-
ſeits des Rheins findet in unseren jüngsten Tagen die Armuth einen
dritten Gesſchichtschreiber ©), der sein großes Talent den Hülflosen mit
noch unentweihter jugendlicher Begeifterung widmet. Er, ſo wenig
wie Schloſſer, will objektiv, wie man das nennt, tlos kalt aufzeich-
nen, was geſchehen iſt, nein, er wie Funk und Schlosser finden Worte
des Herzens für die gute und für die böse That.

Mit seinem Geſchichtswerke wollen wir uns heute vorzugsweise
beſchäftigen. Blanc beginnt nach einer geiſtvollen Einleitung, welche
die ganze Napoleon’ſche Zeit umfaßt, mit der Erzählung der Julitage
von 1830. Die Schilderung dieses Kampfes iſt ausgezeichnet. Weun
Thiers Meister darin iſt, di- Ausführung eines großen Schlachtplans,
die Bewegungen großer Trupp-nmassen auf einem auszedehnten Schlacht-
felde, die Kunst eines Feldherrngenies zu schildern, welches Regimen-
ten und Batterien wie Figuren eines Schachbretts zu handhaben ver-
fieht, so folgt Blanc den Einzelthaten des s. g. gemeinen Mannes,
der stillen und darum um so heldenmüthigeren Aufopferung von Män-
nern, die keinen Geschichtsſchreiber boffen konnten. Wir finden die
rührendften Züge wahrer innerer Größe in jenen Tagen, wo die



') Thiers , sowohl in seiner Geschichte der Nevolution, wie in der ves
_ Consulats und Kalserreichs.

?) Zn seiner Geschichte des 18ten Jahrhunderts.

s) !zzt; Beiträge zur geheimen Geschichte der franzöſiſchen Revolution
i . |

‘) Geſchlihte ver 10 Jahre 1830 ~ 40 von Louis Blanc.

Begeiſierung alle Stelen mächtig über gemeine Geſinnungen erhob,
und es wird nicht jedem Leſrer möglich ſein, das Ende dieser Dar-
fielung trockenen Auges zu erreichen. Diese Darftellung iſt so leben-
dig, so plaſtiſch, wie man das nennt, daß man glaubt, den ganzer
Kampf wie von einem Thurme herab durch alle Straßen mit anzusehen.

Vir wissen in dieser Kunſt nur einen deutſchen Schriftfteller
mit Blanc zu vergleichen, Anton V iln ey , der gleich ihm sein Talent
den Untertrückten geweiht, das wahre Weh' der Menſchheit begreift,
und in der Darſtellung äußeren und inneren Kampfes nicht leicht er-
reicht werden wird. *)

Aber wer kämpfte den Heldenkampf der drei Tage? Derjenige
Theil des Volks, der nichts beſizt. Und wer beutete den Sieg ausk
Die Besttzenden. Das iſß's, was Blane nachweiſt. Das Verhält-
niß der Abhängigkeit der s. g. Proletarier von denen, die ſich ihrex
Arbcit bevienen, blicb daſſ.lbe. Der Cenſus des Wahlgesetzes blieb ſo,
baß nur die Vermögenden in der Kammer vertreten waren.

Die Sieger, tic Beſitzloſen harten daher kein Wort darüber mit-
zuſprechen welche Früchte ihr Sieg tragen solle, und als sie dies ver-
langten, wurden sie von denen zurückzewieſen, die am Tage der Ge-
fahr sich verfieckt gehalten hatten. Keine Aenderung in der ungerech-
ten Vertheilung der Steuern, die indirecten Abgaben welche das Le-
ben vertheuan, blieben, und ſclbſ die Preſſe, um deren Freiheit der
Kampf ja ganz eigentlich gegolten, blieb dadurch ein Monopol des
Vermögens, daß die Herauegabe eines Blattes dcr Cautions-Hinter-
legung großer Kapitalien unterworfen ward.

Cs gibt kaum Etwas Belehrenderes und Anziehenderes für das Stu-
dium hiftoriſcher Personen, als die nach und nach eintretende Täu-
ſchung bei allen denen, die in der beſten Abſicht Louis Philipp zum
Bürgerkönige gemacht. Das Betragen dieses von einer Revolution
Gekrönten gegen tie, die ihm die Krone dargebracht, gegen einen
Lafitte, einen Lafayette iſt fo bezeichnend als intereſſant, und dabei
ſs lebendig dargeſtellt, als ſitze der Leser in einer Loze und sehe an
seinen Augen vorüberzieven, was in dem Innerften der Gemächer
vorgeht. Man hat es Louis Blanc unter Anderm in der A. A. Z.
zum Vorwurf gemacht, daß er seine Geschichte aus Anekdoten zusam-
men sctzze. Allein uns trünkc dies ein Vorzug. Eine Aerußerung in
entscheidendem Äugenblicke, eine Scene zwiſchen den Hauptpersonen
werfen mehr Licht auf die Wahrheit, als Staatsactenſtücke, welche
für die Oeff nllichkeit zugerichtet worden, und zudem führt Blanc
Worte von Prrsonen an, die meiſt noch leben und ihn jeden Augen-

blick Lügen strafen könnten; wir haben aber noch nicht vernommen,

daß iym widersprochen worden wäre. Ja, den ganzen Wortlaut ver-
traulicher Briefe finden wir unter seinen Brlegen und staunen über
die vielen und wichtigen Lufſchlüſſe, die ibm zu Gebote geftanden.
Nicht aber, als bhäufe cr alles Material zu einer Anklage- Acte
gegen eine Seite zuſammen. Er läßt auch den Gegnern Gerechtig-
keit widerfahren; für das Unglück der vertriebenen Königsfamilie
hat er wohlthueade Worte menschlicher Theilnahme, für den heroi-
ſchen Muth der H .rzogin von Brrry hat er die vollſte Anerkennung,
und die Proletarier, die sogenannten niedern Klaſſen der Geſellſchaft,
werden nicht von ihm geschont. Nicht ſeiner Tugenden willen , sagt
er, muß man das Volk lieben, nein, seine bösen Leidenschaften, seine
Laſter, scin verwahrteſter Zuſtand ist's, der uns auffordert, ihm un-
ſere Hülfe, unser Leben zu weihen.
CForts. f.)



*) Von Ant. Vilney, der wie L. Blanc noch ein junger Mann zu sein
ſcheint, kennen wir bis jetzt: Toni, ein Gemälde aus Ungarns
Gegenwart, und Adalay, ein Gemälde aus Kaukasiens
Gegenwart, zwei Roman-Werke, die zugleich ein Theil Geschichte
ſind, und daher faft eine Gattung für ſich selbſt bilden. Wir wollen




 
Annotationen